travelog 99

Barrancas de la Sinforosa
30 Millionen Jahre alt. 1830 Meter tief. 120 Kilometer lang. Tiefer als der Grand Canyon in Arizona. "La Reina de las Barrancas", übersetzt "Königin der Schluchten". Die Rede ist von der Sinforosa Schlucht im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua, die Teil des Kupfer-Schlucht-Systems ist. Der Name "Barranca del Cobre", Kupfer-Schlucht, kommt von der kupfergrünen Farbe der Felswände. Das riesige Schluchtensystem ist mehr als 600 km lang und 250 km breit, besteht aus 6 Schluchten, deren Flüsse alle in den Rio Fuerte münden, der sich in die Sea of Cortez entleert. Das ganze System gehört zu einem der biologisch interessantesten Gebiete der Welt. Die ursprünglichen Bewohner sind die Tarahumara oder Raramuri, wie sich die Tarahumara-Indianer selber nennen. Die Spanier kamen im frühen 17. Jahrhundert und suchten nach Gold und Silver und einige dieser Minen sind heute noch in Betrieb.
Der beste Ausgangspunkt, um die Barranca La Sinforosa zu besuchen, ist Guachochi. Guachochi, was auf Raramuri soviel heisst wie "Ort der Reiher", liegt auf 2400 m Höhe am Rande der zweittiefsten Schlucht der Barrancas del Cobre. Bekannt ist Guachochi vor allem für den "Ultramaratón de Los Cañones", einem Rennen von Guachochi bis hinunter zum Fluss und wieder zurück, bei dem Ende Juli 65 oder 100 km zu Fuss zurückgelegt werden. Ueblicherweise siegen die Tarahumaras, die oft in primitiven "Huaraches", Sandalen mit einer Sohle aus Autoreifen, unterwegs sind, und die seit Jahrhunderten zu Fuss durch diese Schluchten unterwegs sind und die Tücken und Gefahren des Terrains kennen. Während der Regenzeit kann der Fluss, der beim Marathon verschiedene Male überquert werden muss, plötzlich anschwellen. 2008 zum Beispiel wurde ein Kenianer vom Fluss mitgerissen und nie mehr wiedergefunden. Wir haben Guachochi von unserem Besuch in 2001 als kleines Holzfällerstädtchen mit ein paar wenigen kleinen Geschäften in Erinnerung. Im Dezember 2010 ist es schon eher eine kleine Stadt mit einer grossen Einfallsstrasse mit übertrieben vielen Strassenlaternen, Lichtsignalen, vielen Hotels, Modegeschäften, Restaurants und mehreren Tankstellen. Besonders attraktiv allerdings erscheint uns Guachochi nicht, aber wir sind ja auch nicht hergekommen, um uns die Stadt anzusehen.
Durch die Hinterhöfe von Guachochi folgen wir den Schildern zur Barranca de Sinforosa, wo vor kurzem ein "mirador", ein Aussichtspunkt, gebaut worden ist. 2001 legten wir die 18 km bis zum Aussichtspunkt auf einer extrem schlechten Piste zurück, bezahlten 10 Pesos pro Person, um durch ein verschlossenes Tor eingelassen zu werden und campierten oberhalb eines Abgrundes von ungefähr 1800 m mit Sicht auf allen drei Seiten in die Sinforosa Schlucht hinein. 2010 hat sich der Strassenzustand wesentlich verbessert. Es ist zwar immer noch eine Piste und zur Trockenzeit wird das Auto komplett mit roter Erde eingestaubt, doch die 18 km legt man in relativ kurzer Zeit zurück. Wir kommen vorbei an einer alten Holzfällersiedlung, von der noch die kleinen Holzhäuschen im gelben Gras stehen. Das Sägewerk ist noch immer in Betrieb. Die Felder liegen brach. Zwischen den Bäumen versteckt sich ab und zu eine kleine Tarahumara Hütte und neugierige Kinder schauen uns nach. Am Eingangstor gibt es nun einen kleinen Laden, wo man vom Sonnenschirm über das T-Shirt, Batterien, Crackers, Sodas und Bier so ungefähr alles kaufen kann, was man für einen Ausflug braucht. Der Eintritt kostet immer noch 10 Pesos pro Person. Neu sind Toilettenhäuschen, Mülleimer und eine Aussichtsterrasse, die genau an den Punkt gebaut wurde, wo wir 2001 campiert hatten. In den steilen Abhängen stehen gerade verblühte Agave shrevei ssp magna. Dazwischen gibt es Agave wocomahi und ein Dasylirion. Die Blicke bis an den Grund der Sinforosa Schlucht und weit über die endlosen Bergketten der Sierra Madre Occidental sind atemberaubend. Eine weitere Neuigkeit ist eine Piste, die laut handgeschriebenem Schild zum 4 Kilometer entfernten Wasserfall La Rosalinda führt. Der Wärter am Eingang klärt uns aber nachher darüber auf, dass die Piste nur bis runter zu einer Hängebrücke führt und dass es auch mit 4x4 nicht anzuraten sei, dort hinunterzufahren. Am Vortage hätte ein Auto per Bagger wieder heraufgezogen werden müssen. Da es schon spät am Nachmittag ist, verschieben wir den Besuch des Wasserfalles auf einen anderen Tag.
Zurück in Guachochi heizen wir erst einmal unser Zimmer mit dem Gasofen ein. Es gibt sogar kabelloses Internet. Und gleich nebenan ein gemütliches Restaurant mit einem Holzofen und einem bunt geschmückten Christbaum. Nach einem heissen Kaffee nebem dem knisternden Feuer im Ofen wird einem gleich wärmer. Nachdem wir bestellt haben, wird es plötzlich dunkel. CFE, die staatliche Elektrizitätsgesellschaft, die grossspurig das Motto "una empresa de clase mundial" (eine Firma von Weltklasse) auf ihren Autos propagiert, hat wieder einmal versagt. Schnell werden Kerzen ausgepackt und in leeren Colaflaschen auf den Tischen verteilt. Richtig romantisch wird es plötzlich an diesem Vorweihnachtsabend in Guachochi. Die Köchinnen kochen zum Glück mit Gas und Kerzen gibt es auch in der Küche. Wir geniessen ein romantisches Nachtessen und machen es uns nachher im schön warmen Hotelzimmer gemütlich.
Der nächste Tag ist einem Ausflug zu den Cumbres de Guerachi gewidmet. Die junge Frau am Empfang des Hotels ist entsetzt, als Martin ihr erzählt, dass wir Richtung Guerachi wollen. Genau dort würden immer wieder Leute überfallen. Das kennen wir allerdings schon von anderen Orten. Da wo man gerade ist, ist es ganz ungefährlich, und da wo man gerade hinwill, da ist es ganz gefährlich. An der Strasse nach Yoquivo wird gerade gearbeitet. Die ersten paar Kilometer sind schon asphaltiert, doch danach müssen wir auf eine unglaublich staubige Umleitung und verpassen prompt die Abzweigung nach Guerachi. Danach geht es wieder kurz auf einem asphaltierten Abschnitt durch Nadelwälder. Bei einer kleinen Siedlung ist es dann aber wirklich nur noch staubige Piste. Wir fahren durch lichte Nadelwälder und man kann sich gut vorstellen, dass hinter jedem Baum ein paar Räuber lauern, doch wahrscheinlich sind wir noch zu früh am Morgen unterwegs. Es geht stetig bergab. Am Pistenrand steht ein verlassenes Auto. Was macht das da ? Wo ist der Fahrer ? Fragen, die man sich früher, d.h. vor den vielen schlechten Nachrichten aus den Krisengebieten in Mexiko, nicht gestellt hat. Plötzlich kommen wir aus dem Wald heraus und an eine grandiose Aussicht in die Tiefen der Sinforosa Schlucht, an deren Grund sich Guerachi befindet. 3 junge Männer und eine Frau sitzen am Abgrund und trinken ein Dosenbier. Sie wohnen weiter oben im Wald und sind einfach mal rausgefahren, um die atemberaubende Aussicht zu geniessen. Das gibt einem gleich ein besseres Gefühl, dass es in Guerachi auch noch ganz normale Jugendliche gibt, die genauso überwaltigt von der Natur sind wie wir.
In engen und steilen Haarnadelkurven führt die Piste nun talwärts. Die Steilhänge sind mit Agaven, Dasylirion und Yucca bewachsen. In den Klippen gedeiht Agave filifera ssp. multifilifera. Eine überlebensgrosse Virgen de Guadalupe ist an einen Felsen gemalt. Weiter unten passieren wir ein Monument, das bei der Eröffnung dieser spektakulären Piste aufgestellt wurde und wie ein altägyptischer Obelisk aussieht. Aber eigentlich sind wir ja auf der Suche nach einem Sedum, das Jean-Marc Chalet ein Jahr vorher von hier unten mitgebracht hat. Als die Bremsen des Autos langsam den Geist aufgeben, entdecken wir auch die ersten Pflanzen in einer Felswand. Es sind hübsche Rosetten, die auf den ersten Blick etwas an Sedum suaveolens von Topia erinnern. Nachdem wir genügend herumgeklettert sind und fotografiert haben, geht es wieder steil den Berg aufwärts. Beim grandiosen Aussichtspunkt treffen wir auf die Besitzer des Autos, das wir am Morgen am Pistenrand gesehen hatten. Es sind Vermesser, die in ganz Mexiko waghalsige Strassen bauen. Wenn alles nach Plan geht, soll hier eines Tages eine asphaltierte Strasse bis nach Guerachi herunterführen und auf der anderen Seite wieder hinauf, um irgendwo in Sinaloa die Küste zu erreichen. Zu unseren Lebzeiten wird daraus aber sicherlich nichts ! Wieder zurück im Nadelwald stoppen wir für eine breitblättrige Yucca. Und natürlich für Echinocereus chaletii, nach Jean-Marc Chalet benannt, der ohne Blüten nicht sonderlich toll aussieht.
Ein weiterer Ausflug führt uns nun wieder zum Aussichtspunkt an den Cumbres de Sinforosa. Wir lassen das Auto oben stehen und wandern der Piste entlang Richtung Hängebrücke. Die Piste ist nach der ersten Kurve so unglaublich steil, dass es kein Wunder ist, dass sie vom Wasser relativ stark zerstört wurde. Der Autofahrer vom anderen Tag muss ein Verrückter gewesen sein, um nach der ersten Kurve noch weiterzufahren. Unten bei der Hängebrücke gibt es zwei gedeckte Pavillons mit Grillplatz. Die Hängebrücke ist abenteuerlich über eine relativ tiefe Schlucht gebaut. Am besten hält man sich an den Stahlseilen fest, im Falle dass eines der morschen Bretter unter unserem Gewicht nachgäbe. Einige der Bretter fehlen schon und man muss teilweise grosse Schritte nehmen. Die ganze Angelegenheit ist ziemlich schaukelig und eigentlich nichts für nicht schwindelfreie Leute, doch Martin meistert die Brücke mit Bravour. Nun führt der Wanderweg langsam in einen Seitencanyon hinunter. Zuerst ist es ein relativ steiler Hang, doch dann wird es plötzlich zu einer Felswand und man wundert sich, wo der Weg als nächstes durchgehen wird. Weit unten sieht man die Fortsetzung, doch dazwischen liegt eine Felswand. Unglaublicherweise schlängelt sich der Weg, der immer schmäler wird und knapp Platz für eine schlanke Person bietet, die Felswand hinunter. An den breiteren Stellen kann man etwas verschnaufen, um sich auf die engen Partien zu konzentrieren. Es befällt einen schon immer wieder etwas der Schwindel, wenn man Felskanten entlang tänzelt, immer mit einem Blick in die Tiefen der Schlucht hinunter. Nach einer Ewigkeit erscheint endlich der Wasserfall La Rosalinda. Im Dezember gibt es leider nicht mehr soviel Wasser, doch ein dünner Strahl schiesst immer noch über die rötlichen Felsen hinunter. Der Weg führt zu einem dunkelgrünen Pool im Schatten grosser Bäume. Hier unten wirkt die Vegetation schon fast subtropisch und alles ist wunderbar grün und überwuchert. Mit dem Fernglas entdecken wir helle Rosettenpolster, die sich als das gleiche Sedum von Guerachi herausstellen, und das wir mal provisorisch Sedum sinforosanum nennen. Nach einer Verschnaufpause machen wir uns wieder an den Aufstieg, der sich wesentlich anstrengender gestaltet. Die Temperaturen sind angestiegen und in der Felswand brennt einem die Sonne ganz anständig auf den Buckel. Man sehnt sich plötzlich nach den kühlen Nadelwäldern. Ziemlich ausser Atem erreichen wir endlich wieder die Hängebrücke und untersuchen die Felsen etwas genauer. Allgegenwärtig ist Mammillaria senilis, leider nicht in Blüte. Im trockenen Moos entdecken wir dann die fast komplett vertrockneten Rosetten von Graptopetalum filiferum, einer Spezies die wir nur aus der Nähe von Choix, fast auf Meereshöhe, kennen. Die nächste Ueberraschung ist das Sedum von Guerachi, das wir auch unten am Rosalinda Wasserfall gesehen haben. Und dazwischen wächst eine Pflanze, die so aussieht wie eine Hybride zwischen den beiden. Der Aufstieg zum Auto am Aussichtspunkt gestaltet sich etwas mühsam, haben wir uns doch schon ziemlich verausgabt. Doch dann gönnen wir uns im Restaurant in Guachochi ein kaltes Bier und sind bald wieder erfrischt und zu neuen Schandtaten bereit.
Unser nächstes Ziel ist Creel, von wo aus wir in die Barranca de Urique fahren wollen, in die tiefste der Kupferschluchten.
Januar 2011
Julia Etter & Martin Kristen
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