travelog 97






Wiedersehen mit Topia



Von Santiago Papasquiaro in Zentral-Durango schlängelt sich eine Strasse westwärts hoch in die Sierra Madre Occidental hinauf. Durch Pinien- und Eichenwälder kommen wir vorbei an grossen Populationen von Agave parryi und später Agave filifera ssp. schidigera. Auf fast 2400 m Höhe in der Nähe des Dorfes Los Altares, besuchen wir den Typstandort von Graptopetalum saxifragoides. In einer Schlucht mit Felszacken und -säulen und einem Bach klettern wir auf der Suche nach dem Graptopetalum herum. Zuerst finden wir Echinocereus acifer, der sich im Mai mit leuchtend roten Blüten schmückt. Dann folgt Echeveria chihuahuaensis, ebenfalls in Blüte im Mai. In Felsritzen finden wir dann endlich auch die stark verschrumpelten kleinen Rosetten des Graptopetalums. Nur ganz im Schatten und mit etwas mehr Humus sehen die Rosetten wirklich einem Graptopetalum saxifragoides ähnlich.



Weiter geht es durch endlose Pinienwälder mit Blicken weit in die Sierra Madre Occidental hinein. Bis auf 2850 m Höhe klettert die Strasse hinauf. Im April 2001, auf unserer ersten Reise nach Topia, hört der Asphalt hinter La Quebradita auf. Im Dezember 2010, unserer zweiten Reise in dieses Gebiet, ist die Strecke bis nach La Cañada del Machito asphaltiert, von wo es noch 20 km nach Canelas sind. Allerdings wurde wie üblich nur eine ganz dünne Schicht Asphalt aufgebracht, die nach einer Regenzeit und einem kalten Winter an vielen Stellen wieder auseinanderfällt. Die Strecke fühlt sich eher wie eine Fahrt auf der Achterbahn an, man muss unheimlich auf die vielen tiefen Schlaglöcher aufpassen und kommt natürlich nicht sonderlich schnell vorwärts. Aber immerhin geht es schneller als auf der Piste vor vielen Jahren. Wir passieren kleine Siedlungen, die auch in den Alpen stehen könnten - nur das Corona-Werbeschild passt schlecht in die Schweiz oder ins Allgäu. Apfelbäume, braungrüne Weiden, Kühe, Hühner und Schweine, mit Schindeln gedeckte Holzhäuser, weite Tannenwälder. Ewig führt die Strasse durch die Wälder und wir erwarten immer, dass es endlich abwärts geht, denn Topia liegt auf 1750 m Höhe.



Endlich erreichen wir die Abzweigung nach Topia, doch wir fahren immer noch auf über 2000m durch die Wälder. Allerdings befinden wir uns jetzt auf einer mehr oder weniger schlechten und sehr engen staubigen Piste. Kleine Pisten zweigen in die umliegenden Weiler ab und endlich eröffnet sich uns der erste Blick in die tiefe Schlucht bei Topia und weit unter uns können wir auch einen schnellen Blick auf das kleine Städtchen erhaschen. Nun schlängelt sich die Piste in engen Haarnadelkurven steil den Berg hinab und wir wundern uns immer wieder, wie wir hier fast 10 Jahre früher im Unimog durchgefahren sind.



Fast 200km nordwestlich von Santiago Papasquiaro erreichen wir endlich Topia, ein kleines, lebendiges Städtchen mitten in der Sierra Madre Occidental. An diesem Freitagabend gibt es fast kein Durchkommen in den engen Gassen. Die Hauptstrasse ist in beiden Richtungen befahrbar und beim Eindunkeln paradieren Autokolonnen die enge Strasse hinauf und wieder hinunter. Immer wieder muss man sich zwischen geparkte Fahrzeuge zwängen, um ein entgegenkommendes Auto vorbeizulassen. Die meisten Autos sind brandneu, blitzblank herausgeputzt mit glänzenden Felgen und der Stereoanlage auf volle Lautstärke aufgedreht, und durchwegs sitzen junge Männer am Steuer. Ueberhaupt ist es erstaunlich, wie viele junge Männer es in diesem Ort am A.... der Welt gibt ! Offiziell ist die Arbeit in Minen die hauptsächliche Einnahmequelle, doch es ist offensichtlich, dass es viel lukrativere Geschäfte zu machen gibt so tief in den Bergen von Mexiko.



Unglücklicherweise wird am nächsten Tag ein Wettbewerb zwischen den umliegenden Schulen ausgetragen und Lehrer und Schüler haben alle Hotelzimmer der kleinen Ortschaft besetzt. Nachdem wir das zweitletzte verfügbare Zimmer in einem Hotel am Hauptplatz, wo wir für 150 Pesos pro Zimmer unterkommen könnten, besichtigt haben, beschliessen wir spontan, dass wir lieber eine ungemütliche, kalte Nacht im Auto in Kauf nehmen, als für das modrige und nach Abwasser stinkende Zimmer mit zwei kleinen Betten und durchgelegenen Matratzen zu zahlen, wo man das Badezimmer mit den anderen Gästen teilt. Etwas verloren wandern wir entlang der Hauptstrasse, als uns ein junger Mann anspricht und fragt, ob wir die Fremden von der UNAM seien. Natürlich ist unser alter, grüner Pickup Truck mit den grossen Klebern, die uns als Mitarbeiter des Botanischen Instituts der UNAM (Universidad Nacional Autonoma de Mexico) ausweisen, sofort aufgefallen. Wir kommen schnell ins Gespräch mit dem netten jungen Mann, der uns nach kurzer Zeit einer seiner Tanten vorstellt, die ein leeres Zimmer zur Verfügung hat, das sie ab und zu den Bus-Chauffeuren vermietet. Doña Maria Elena lädt uns mit der üblichen mexikanischen Gastfreundschaft in ihr einfaches Haus ein und will uns nicht nur ein Zimmer, sondern gleich zwei Zimmer zur Verfügung stellen, natürlich alles kostenlos. Nach schmackhaften Burritos bei Blanca, einer Freundin von Doña Maria Elena, sitzen wir wieder in ihrer Küche und plaudern über ihre Kindheit in Topia. Maria Elena wohnt eigentlich im Bundesstaat Yucatan in einem kleinen Dorf am Meer, doch jedes Jahr kommt sie für drei Monate mit ihrer nun 96-jährigen Mutter zurück in das kleine Elternhaus in Topia.



Mit dem Flugzeug geht es von Merida nach Leon, wo Familie besucht wird. Danach mit dem Bus weiter nach Durango. In Durango steigen die beiden Frauen in einen anderen Bus nach Santiago Papasquiaro ein, danach muss nochmals in einen anderen Bus umgestiegen werden. Die letzten 28km sind auf oben erwähnter staubiger, steiniger und enger Piste zu bewältigen. Doña Teresa, die Mutter von Maria Elena, braucht danach immer ein paar Tage, um wieder ganz ausgeruht zu sein. Die Fahrt mit dem Bus ist eben für einen Bruchteil des Preises eines Flugtickets an Bord einer kleinen Propellermaschine zu erstehen. Eine andere billige Transportmöglichkeit ist die Fahrt mit Maria Elenas Cousin, dem Fahrer der Ambulanz. Für Notfallpatienten ist sie gratis, doch sicherlich nichts für schwache Nerven. Die normalerweise 8-stündige Fahrt nach Santiago Papasquiaro legt er nach seinen eigenen Worten in 4 Stunden zurück, allerdings ist er auch schon mal in einer Kurve von der Strasse geraten, wobei es nicht nur ihn und seinen Beifahrer, sondern auch den Patienten von der Tragbahre und aus dem Fahrzeug schleuderte. Seine abenteuerlichsten Fahrten, erzählt er, seien hochschwangere Frauen, die für die Geburt ins "nahegelegene" 200km entfernte Spital in Santiago Papasquiaro eingeliefert werden sollen. Natürlich startet die Ambulanz immer möglichst nahe am Geburtstermin, denn sonst müssten die Frauen ja für den zusätzlichen Aufenthalt im Spital bezahlen. Das kann auch mal um 2 Uhr nachts sein. Dabei kommt es gerne mal vor, dass die Wehen schon nach den ersten holprigen Kurven oberhalb von Topia einsetzen und die Entbindung dann unterwegs durchgeführt werden muss. Als Krönung erzählt er uns noch von einer seiner letzten Fahrten, bei der er einen jungen Mann, der nach dem Dorffest erstochen aufgefunden wurde, ins 60 km entfernte La Cienega zur Bestattung bringen musste.



Diese Gegend der Sierra Madre Occidental hat keinen sonderlich guten Ruf. So bekommen wir natürlich auch Geschichten von allen möglichen Ueberfällen zu hören. Ein besonders beliebtes Ziel sind die Lastwagen, die in Papasquiaro oder Durango Lebensmittel aufladen und in den kleinen Geschäften in Topia ausliefern sollen. Regelmässig werden sie Opfer von Ueberfällen, doch immerhin ist dabei noch nie ein Fahrer ums Leben gekommen. Uebrigens merkt man an den Lebensmittelpreisen, dass man weit vom Rest der Welt entfernt ist. Ein Liter Milch in einer Plastikflasche zum Beispiel, der normalerweise 11 Pesos kostet, wird hier für 16 Pesos verkauft. Maria Elena kennt weitere Geschichten, Sagen und Legenden aus Topia und bei einem Gläschen Tequila, den wir aus Jalisco mitgebracht haben, und einem heissen Ponche, den sie für die Weihnachtszeit gekocht hat, vergeht die Zeit beim Geplauder ganz schnell. Einige ihrer jüngeren männlichen Verwandten haben eine für die heutige männliche mexikanische Jugend nicht untypische Einstellung. Sie lassen sich von Drogenbanden anstellen und bezahlen, können sich ein neues Auto mit spiegelnden Felgen und lauter Stereoanlage leisten und haben es bei den hübschen Frauen von Topia etwas leichter, doch im Gegenzug sinkt ihre Lebenserwartung beträchtlich. Sie ziehen es vor nach dem Motto "besser jung und reich als alt und arm sterben" zu leben.



Als wir im Morgengrauen aufstehen, hat Doña Maria Elena schon den Boiler eingefeuert. In ihrem Haus wird das Wasser im Boiler mit Holz angeheizt. Aus der Küche strömt auch schon der Duft von frischem Kaffee mit Zimt und um die Ecke finden wir ein paar Stückchen süsses Gebäck, ein einfaches aber schmackhaftes Frühstück. Danach machen wir uns auf den Weg. 2001 erweckten wir mit dem Unimog wesentlich mehr Aufsehen und wurden sogar dem Bürgermeister vorgestellt, der in uns finanzkräftige Investoren für die lokalen Minen sah und sichtlich enttäuscht war, als wir ihm erzählten, dass es uns eigentlich eher Pflanzen statt Gesteine angetan hätten. Damals bestellte er seinen Stellvertreter ab, damit er uns die richtige Abfahrt nach Los Molinos zeigte. Dieser versicherte uns, dass die Strecke kein Problem für den Unimog darstelle, was sich natürlich als Schönrednerei herausstellte. Von 1750 m in Topia geht es in abenteuerlichen Haarnadelkurven bis auf 1150 m in Los Molinos hinunter. Mit PocoLoco waren diese Kurven selten im ersten Anlauf zu schaffen, doch wundersamerweise mussten wir uns nicht mit Gegenverkehr abkämpfen. Und die Fahrt im April vorbei an den vielen gelb blühenden Agave vilmoriniana war die Mühe und Kurblerei alleweil wert. 2010 ist die Piste nach Los Molinos hinunter nicht breiter oder besser geworden, aber unser Vehikel ist wesentlich kleiner. Auch diesmal gibt es nicht viel Gegenverkehr und bald erreichen wir Los Molinos, eine kleine Siedlung mit einer alten, langsam zerfallenden Mühle. Wir folgen der Piste oberhalb des Fluss eine kleine Weile bis zu einem Rancho, dessen Besitzer allerdings nicht aufzufinden sind. Von dort folgen wir einem Fusspfad an den Fluss hinunter bis zu der senkrechten Felswand, die mit Sedum suaveolens bewachsen ist. Alle Versuche, durch abenteuerliches Klettern in die Nähe der Pflanzen zu kommen, sind vergeblich. Dieses Mal können wir nicht einmal heruntergefallene Pflanzen finden. Wir müssen uns mit einigen Teleobjektivfotos zufriedengeben und hoffen, ein nächstes Mal etwas mehr Zeit in der Gegend zu verbringen, um weitere Standorte dieser wunderschönen und interessanten Pflanze zu finden. Wir wandern noch etwas flussabwärts, kommen aber nur an teilweise gerodeten Flächen zwischen grossen Felsen am Fluss vorbei, die gerade mit einem Bewässerungssystem gespritzt werden. Zwischen all den grünen Bäumen wird eine kleine Marihuana-Pflanzung bestimmt nicht gross auffallen, falls das Militär mal mit Helikoptern die Gegend überfliegen sollte, und von der Piste her ist der Fluss nur selten zu sehen. Auf dem Rückweg fällt uns dann in Los Molinos auch ein kleiner Altar für Jesus Malverde auf, der an diesem Samstag von jungen Leuten besucht wird. Malverde wird auch der Heilige der Drogenhändler (Santo de los Narcos) genannt und er ist so etwas wie ein mexikanischer Robin Hood. Der Kult um Malverde begann in Sinaloa, hat sich aber über ganz Mexiko ausgeweitet, allerdings ist es mehr als fragwürdig, dass er wirklich je so existiert hat, wie es die vielen Geschichten erzählen. Die katholische Kirche jedenfalls anerkennt Malverde nicht als Heiligen, nichtsdestotrotz figuriert er unter anderem als Beschützer aller Personen, die mit der Produktion oder dem Handel mit Drogen zu tun haben.



Heute Nachmittag haben wir kein Problem mehr, in Topia ein akzeptables Hotelzimmer zu finden. Beim Eindunkeln besuchen wir nochmals Doña Maria Elena und ihre Mutter. Sie erwarten uns mit heissem Ponche und Buñuelos, in Fett ausgebackenen Küchlein, die unseren Fastnachtsküchlein ähneln. Den Ponche veredeln wir mit Tequila und die Buñuelos, die Maria Elena fortlaufend aus der Pfanne holt und ihre Mutter noch heiss mit Puderzucker bestäubt, bestreichen wir mit einem dicken Puree von Guaven aus dem kleinen Garten hinter dem Haus. Wieder gesellt sich Maria Elenas Cousin, der Ambulanz-Fahrer, zu uns und gibt seine Geschichten zum besten - natürlich sagt auch er nicht nein zu ein paar kräftigen Gläschen Tequila pur. Ausserdem erzählt uns Doña Teresa von ihrer Kindheit in Topia.



Am nächsten Tag verlassen wir Topia Richtung Canelas und müssen hinter Canelas wieder bis auf über 2000 m Höhe hinaufklettern, um in La Cañada del Machito die miserable Teerstrasse zu erreichen, die eines fernen Tages bis nach Tamazula und die Küste von Sinaloa asphaltiert werden soll. Die Zeit vergeht viel zu schnell und so kommen wir bei Tageslicht nur bis La Cienega, einer kleinen Holzfäller- und Minenstadt. Alle billigen Hotels im Zentrum sind besetzt und so müssen wir in den sauren Apfel beissen und ein Zimmer im besten Hotel am Platz nehmen, das später auch voll besetzt sein wird. Mitten im Dezember ist es nicht anzuraten, hier oben in den Bergen zu campieren ! Mit zusätzlichen Wolldecken aus unserem Vorrat und den dicken Jacken über dem Pyjama werden wir gerade mal so einigermassen warm im Bett. In den meisten Hotels in solch kalten Bergregionen, die ausserdem wesentlich günstiger waren, haben wir später Gasöfen angetroffen, die die Zimmer schön aufgewärmt haben.



Unser nächstes Ziel ist Tepehuanes, das wir über extrem schlechte Pisten erreichen. Von hinten schleichen wir uns an die Minen bei Tovar heran, um uns einmal mehr auf die Suche nach der seit 1911 verlorenen Echeveria tobarensis zu machen. Doch davon wollen wir Euch in einem nächsten Reisebericht erzählen.



November 2010



Julia Etter & Martin Kristen