travelog 94






(K)ein Grund zu feiern: Bicentenario



200 Jahre Unabhängigkeit und 100 Jahre Revolution, das muss gefeiert werden! Und da wir in Mexico sind, muss erst recht gefeiert werden, obwohl es bei der herrschenden Situation mit Drogenkrieg, Enthauptungen, Morden, Entführungen, bewaffneten Ueberfällen etc. eigentlich nicht viel zu feiern gibt. Diese Gefühle spiegeln sich denn auch in den Medien wider, die über die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten berichten. So wird z.B. gesagt, dass anlässlich der Bicentenario-Feiern viel zuviel über die Vergangenheit nachgedacht wird und dass eine wichtige Gelegenheit, über die Zukunft des Landes nachzudenken, durch Feste und Feuerwerk vergeudet wird. Grundton ist, dass es schwierig ist, mit Spass und Freude zu feiern, wenn man jeden Tag in den Zeitungen und am TV neue Schreckensmeldungen über Gewalt, Unsicherheit und Kämpfe zwischen Drogenbanden und Polizisten liest bzw. hört.



In vielen Gemeinden werden die offiziellen Feierlichkeiten aus Sicherheitsgründen abgesagt. Der berühmte "El Grito", der Schrei zur Unabhängigkeit, wird vielerorts per Fernseher übertragen. In Morelia, wo 2008 zum Unabhängigkeitstag bei einem Attentat mit Granaten 8 Menschen umgebracht und über Hundert verletzt wurden, werden die offiziellen Feiern zum zweiten Mal in Folge abgesagt. In Ciudad Juarez, der gefährlichsten Stadt Mexicos (und einer der Top Ten gefährlichsten Städte der Welt) wird der Bürgermeister den "Grito" im Regierungsgebäude geben, die Zeremonie wird dann via Fernsehen übertragen. Feuerwerke sind an einigen Orten verpönt, weil die Kracher die Bevölkerung leicht in Panik versetzen könnten.



Auch die Kosten machen von sich reden. Ganz genau werden es die Mexikaner aber erst in 12 Jahren wissen, dann interessiert sich wahrscheinlich auch keiner mehr so richtig dafür und es ist genügend Gras darüber gewachsen. Total soll alles zusammen ungefähr 230 Millionen Dollar kosten. Davon werden alleine 45 Mio Dollar für nur 8 Stunden Fest zum Wechsel 15./16. September ausgegeben. Viele kostspielige Projekte, die auch zukünftige Generationen geniessen können sollen, werden erst 2011 fertig. Einige Kunstwerke verdoppelten sich im Preis seit dem Kostenvoranschlag, weil sie zum Beispiel erdbebensicher gemacht wurden. Ein Denkmal in Mexico City hat sich im Preis auf 50 Millionen Dollar verdoppelt. Eine Statue in Guanajuato wird 4 Millionen Dollar kosten und sieht anscheinend wie eine Kopie der griechischen Siegesgöttin von Samothrakien aus. Die Festivitäten werden als Anlass der Regierung angesehen, um die Bevölkerung von den echten Problemen des Landes abzulenken. Das viele Geld hätte beispielsweise besser für die Linderung der Schäden durch die letzten Naturkatastrophen in Veracruz (Ueberschwemmungen) ausgegeben werden können. Auch Investitionen in Schulen, Erziehung, Hausbau, etc. wären eine Möglichkeit gewesen, 230 Millionen Dollar weitaus sinnvoller auszugeben.



Auf der anderen Seite kann man auch sagen, dass 230 Millionen Dollar modern ausgedrückt "Peanuts" sind. Dass die Festivitäten dazu dienen, Mexikos Identität zu erneuern und nicht nur dazu da sind, sich an wichtige historische Daten zu erinnern, sondern die Werte und Ideale wiederzubeleben, die die Nation geprägt haben. Es sollte nicht vergessen werden, dass viele Menschen gestorben sind, um vor 200 Jahren Mexikos Unabhängigkeit zu erreichen. Die Verpflichtung der Bürger von heute ist es, wieder ein Gefühl der Einheit herzustellen. Und dafür kann ein riesiges Fest und viel Patriotismus nicht schaden. Sich der gemeinsamen Wurzeln erinnern, der Kultur, der Geschichte, der Traditionen ist gleichzeitig eine Möglichkeit, über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken, die die Mexikaner sich für ihr Land wünschen, und auch damit zu beginnen. Hoffentlich geben die Festivitäten Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wo man wieder nach Herzenslaune feiern kann.



Schon Wochen vor den offiziellen Feierlichkeiten tauchen die ersten mobilen Stände in Dörfern und Städten auf, wo man allen möglichen Kitsch in den Nationalfarben grün, weiss und rot kaufen kann. Fahnen gibt es in allen Grössen. Auch die verschiedenen heiligen Jungfrauen Mexikos und natürlich Jesus sind ein beliebtes Sujet. Dicke Mariachi-Musikanten, Tequila- und Bierflaschen, Adler und Sombrerohüte sind als Schlüsselanhänger zu erstehen. Ueberall steht "Viva Mexico" drauf. Windräder, Traumfänger mit gefärbten Federn, Flaschenöffner, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, es gibt fast alles in grün-weiss-rot zu kaufen.



Die Hauptplätze der Städte sind ebenfalls in grün-weiss-rot dekoriert. Fahnen hängen von Balkonen, Fähnchen und Girlanden von den Kiosken auf den Hauptplätzen. In Grossstädten zählt eine Digitaluhr die Stunden, Minuten und Sekunden bis zum "Grito" rückwärts. Entlang fast jeder Strasse in Mexiko stehen Schilder mit der Aufschrift "Ruta 2010", oft werden die Kilometer bis zur nächstgrösseren Stadt angegeben, die bei der Unabhängigkeit 1810 oder der Revolution 1910 eine Rolle gespielt hat. Doch nachdem man die Schilder überall im Land gesehen hat, egal ob ein Zusammenhang mit der Unabhängigkeit oder der Revolution besteht, beschleicht einen das Gefühl, dass sich hier einer eine goldene Nase mit Strassenschildern verdient hat.



Unser Anlass zu feiern ist aber nicht das Bicentenario, sondern die Geburtstage zweier Freunde. Beide sind laut Angaben ihrer Mütter kurz nach 11 Uhr nachts auf die Welt gekommen. Um 11 Uhr haben sich diese Mütter also den "Grito" angehört und sind dann nach Hause gegangen, um ihren persönlich Schrei loszulassen. Uebrigens ist es interessant, wieviele Mexikaner am 15. September Geburtstag haben, jedenfalls haben wir in unserem Bekanntenkreis mindestens 10 Leute mit diesem Geburtsdatum. Salvador, ein Käser, und Guillermo, ein Anwalt, werden an diesem 15. September gefeiert. Einstimmig wird beschlossen, dass wir dieses Jahr grosse Menschenansammlungen vermeiden wollen und so fällt die Wahl auf Chava's Haus, weil es a) am grössten ist und weil er b) Helferinnen hat, die am nächsten Tag die ganze Unordnung aufräumen "dürfen" bzw werden. Auch die Wahl des Menus fällt leicht, es soll alles möglichst in den Nationalfarben grün, weiss und rot präsentiert werden.



Mit einer Freundin zusammen machen wir uns einen Tag vor dem grossen Ereignis ans Werk. Sobald wir alle Töpfe und Pfannen abgewaschen haben, steht schon ein neuer Berg bereit. Die Kühlschränke füllen sich. Durch das Haus zieht der Duft von Gewürzen. Schliesslich haben wir unseren Teil des Essens vorbereitet. Als Vorspeise haben wir eine Huitlacoche-Suppe gekocht. Huitlacoche ist eine durch einen Pilz verursachte Krankheit der Maispflanze, bei der normalerweise die Maiskörner am Kolben durch grosse verformte Körner ähnlich Pilzen ersetzt werden. In Mexiko ist Huitlacoche eine grosse Delikatesse und nicht immer einfach frisch zu kaufen. Da im September viel Mais geernet wird, ist es die ideale Zeit, um Huitlacoche auf einem Markt zu finden. Unsere Suppe wird mit Zwiebeln und Knoblauch, richtigen frischen Maiskörnern, Tomatenstückchen und frischen Kräutern wie Koriander und Epazote (Dysphania (Chenopodium) ambrosioides, wohlriechender Gänsefuss) gewürzt. Chiles dürfen natürlich nicht fehlen. Als Garnitur kommen gehackte Zwiebeln und Koriandergrün, geröstete Tortillastreifen und ein getoasteter Chile de Árbol auf die Suppe. Als Hauptspeise gibt es ein Gericht, das typischerweise im September für den Nationalfeiertag serviert wird. Es sind "Chiles en Nogada", gefüllte grüne Chiles in einer Nusssauce. Das ganze ist extrem arbeitsintensiv und es lohnt sich nur, dieses Gericht für viele Leute zu kochen. Wir verarbeiten 20 Chiles. Die Präsentation ist natürlich auch in den Nationalfarben: der grüne Chile mit einer Fleischfüllung, die mit vielen Gewürzen, Nüssen und Früchten geschmort wird; darüber wird die weisse Nusssauce gegossen; danach wird mit roten Granatapfelkernen dekoriert. Dazu servieren wir einen dreifarbigen Reis. Der grüne Reis wird mit einem Puree aus Selleriestielen, Petersilie, Koriander und grünem Chile gekocht. Der weisse Reis wird mit Zwiebeln gewürzt. Für den roten Reis kochen wir Tomatenpuree, das wir mit getrockneten Jamaicablüten und Randenscheiben haben durchziehen lassen, um es richtig schön rot zu machen. Als Krönung kommt ein Petersilienblatt als Adler der mexikanischen Flagge ins Zentrum. Natürlich darf die Nachspeise nicht fehlen. Die Wahl fällt auf mexikanische Brownies, die mit Chile chipotle Pulver gebacken werden.



Abends treffen wir uns bei Chava. Der Tisch ist schon gedeckt, doch bald müssen Stühle gefunden werden, denn wie in Mexiko üblich, kommen mehr Leute als ursprünglich eingeladen, doch das macht die ganze Fiesta ja erst richtig spannend. Einige der Gäste haben sich sogar bei der Kleidung an die Nationalfarben gehalten oder sonst ein mexikanisches Detail eingebaut, wie z.B. ein grün-weiss-rotes Band ins Haar eingeflochten oder einen übergrossen Sombrero aufgesetzt. Die Wohnküche haben wir mit bunten Fähnchen und Scherenschnitten dekoriert. Auch an mexikanischer Musik fehlt es nicht. Der Tisch ist reichlich gedeckt. Die Früchte, die im Zentrum Mexikos als Apero serviert werden, sind weisse Jicama (Pachyrhizus erosus, mexikanische Steckrübe), rote Wassermelone und grüne Gurke, die mit Salz, Chile und Limesaft serviert werden. Chava hat Panela, einen Frischkäse ähnlich einem riesigen Formaggini aus Ziegenmilch gemacht, den er mit gehackten frischen grünen Kräutern und roten Chilestreifen garniert und mit Olivenöl beträufelt hat. Andere Gäste bringen "Camaról al Aguachile", Riesencrevetten mit Zwiebelringen und Gurkenscheiben, die in einer Mischung aus frischem Chile de Ábol, Wasser und Limesaft "gekocht" werden. Chava hat zum speziellen Anlass einen französischen Champagner gefunden, der mit einer Etikette extra für das Bicentenario gemacht wurde. Wein und Tequila fliessen in Strömen. Um 11 Uhr nachts steigen die Männer eine Etage höher und geben den "Grito", den Schrei zur Unabhängigkeit Mexikos, zum besten. Am Fernsehen können wir uns danach sogar die Liveübertragung des Feuerwerkes aus Mexico City anschauen. Danach wird in verschiedene mexikanische Hauptstädte gewechselt, und sogar Bilder von den Festivitäten in den USA, Asien und Europa werden übertragen.



Am nächsten Tag, dem 16. September, wird offiziell weitergefeiert. In vielen Dörfern und Städten gibt es Umzüge mit Pferden, Schulkinder rezitieren aus der Geschichte Mexikos, Dorfpräsidenten halten Ansprachen, der Alkohol fliesst in Strömen. Wir besuchen ein kleines Dorf, wo wir gerade richtig für den Beginn der Festivitäten kommen. Vor der Kirche versammeln sich die schön verkleideten Reiter und Reiterinnen, während sich auf dem kleinen Hauptplatz die Schulkinder formieren. Das Lautsprechersystem wird ausprobiert. Eine Bläsergruppe marschiert hinter ihrer Standarte um den Platz herum. Kinder sind als Hidalgo, Pancho Villa und weitere Helden der mexikanischen Geschichte verkleidet und leiern auswendig gelernte Sprüche ins Mikrophon. Zuletzt ziehen alle durch die staubigen Gassen des Dorfes. Gefolgt wird der Umzug von den Reiterinnen und Reitern. Zwischendurch zwängt sich auch hin und wieder ein aufpoliertes Auto, auf dessen Motorhaube unter anderem die "Reyna 2000", die Schönheitskönigin des Dorfes aus dem Jahre 2000, verzweifelt versucht, nicht herunterzurutschen. Natürlich sind diese "Reynas" etwas in die Jahre gekommen und oft auch kräftig auseinandergegangen, doch nichtsdestotrotz haben sie sich in ihr weit ausgeschnittenstes Kleid gezwängt. Unter den Beifallspfiffen der männlichen Dorfjugend werfen sie Süssigkeiten in die Menge.



Und nach dem 16. September ist der ganze Spuk vorbei. Was bleibt sind Berge von Müll. Und 230 Millionen Dollar Schulden. Und das Leben geht weiter wie bisher. Die Nachrichten von der Front im Drogenkrieg, von den Entführungen und brutalen Morden sind morgens einmal mehr das Hauptthema im Eckcafe und abends am Fernsehen.



Wer Interesse an den Rezepten dieser fantastischen Gerichte hat, kann sie auf unserer Rezeptseite nachschauen und -kochen.

Direkte Links auf die Gerichte vom 15. September:

Doña Tere's Camarón al Aguachile hier

Früchte wie man sie in Jalisco serviert hier

Huitlacoche Suppe hier

Chiles en Nogada hier

Dreifarbiger Reis hier

Mexikanische Brownies hier



September 2010



Julia Etter & Martin Kristen