travelog 83

Mexcaltitan
Nach unserer abenteuerlichen Reise durch die Sierra de los Huicholes genehmigen wir uns einen ruhigen Tag am Meer. Nicht weit von Santiago Ixcuintla, Nayarit, befindet sich die kleine Insel Mexcaltitan mit dem gleichnamigen Pueblo Magico. Vorbei an Zuckerrohrfeldern, Bananen- und Papayaplantagen, Feldern mit jungen Tabakpflanzen und durch verschlafene Dörfer, wo man alles für einen Ausflug ans Meers kaufen kann, fahren wir bis zur Abzweigung zum Embarcadero La Batanga. Bald schon führt die Strasse entlang von Kanälen und Wasserstrassen mit Fischerbooten und Tausenden von Wasservögeln bis wir zur Bootsanlegestelle für Mexcaltitan kommen. Der Parkplatz ist an diesem Sonntagmorgen früh noch leer. Die Luft ist wunderbar klar und die Temperaturen noch angenehm kühl. Ein geschäftiger älterer Mexikaner weist uns einen Parkplatz in der Nähe seiner Hütte zu und bedeutet uns, dass er auf unser Auto gut aufpassen werde - für einen Obolus, wie wir aus Erfahrung wissen. Wir packen unsere Siebensachen und schliessen das Auto ab. Eine ganze Flotte schmaler Boote erwartet uns an der Anlegestelle. Die Bootsführer dösen in Hängematten am Schatten oder diskutieren über Gott und die Welt und warten geduldig auf Kundschaft.
Die ca. 20-minütige Bootsfahrt ist wunderschön. Auf breiten Wasserstrassen fahren wir durch dichte Mangrovenwälder. Auf riesigen Baumskeletten sonnen sich Gruppen von kleinen weissen Reihern. Im trüben Wasser lauern unbeweglich grosse Graureiher auf vorbeischwimmende Beute. Bunte Enten, schwarz-weisse Haubentaucher, Kormorane, rosarote Ibisse, weisse und graue Pelikane sind nur ein paar der vielen Vögel, die wir identifizieren können. Ab und zu passiert uns ein anderes Boot, auf dem Personen und allerlei Waren von und zur Insel transportiert werden. Fischer kontrollieren ihre Netze. Bald schon weiten sich die Kanäle und in der Ferne können wir den kreisrunden Umriss von Mexcaltitan erkennen. Unser Bootsführer lädt uns am Pier aus und wir schlendern auf der Hauptstrasse, die eher eine enge Gasse zwischen farbigen Häusern ist, auf den Hauptplatz.
Mexcaltitan, auch Mexiko's Venedig genannt, wird gemeinhin als die Wiege der Mexikaner angesehen. Es wird vermutet, dass die kleine Insel das mythische Aztlan ist, der Ort von dem die Mexicas (oder Azteken) ungefähr 1091 n. Chr. zu ihrer epischen Wanderung nach Tenochtitlan aufbrachen. Einige Aspekte scheinen diese Theorie zu untermauern, doch die Wissenschaftler und Archäologen sind sich nicht einig. Der Aztekenherrscher Moctezuma erzählte Hernan Cortes, dass seine Vorfahren von einem Ort weit weg irgendwo im Nordwesten nach Tenochtitlan gekommen seien. Die Schreibweise von Mexcaltitan und Mexica scheint vielen kein purer Zufall zu sein. Der Name Aztlan, argumentieren andere, komme von Aztatlan, was soviel wie "Platz der Reiher" bedeute - tatsächlich können unterschiedliche Reiherarten in grossen Mengen in der Gegend von Mexcaltitan beobachtet werden. Ausserdem zeigt eine Karte Neuspaniens (New Spain) von 1579 ein "Aztlan" genau an der Stelle wo das heutige Mexcaltitan liegt. Und es gibt noch weitere Argumente, doch das wohl bestechendste ist die Form von Mexcaltitan. Wie in einem Mini-Tenochtitlan verlassen nord-süd und ost-west orientierte Strässchen den Hauptplatz und teilen die Insel so in vier gleich grosse Quartiere auf.
Mexcaltitan ist zu Fuss schnell erforscht. Es gibt übrigens keine andere Art, die Insel zu erforschen, denn hier gibt es keine Autos. Die Insel misst nur 1000m im Umfang, 400m von Nord nach Süd und 350m von Ost nach West. Die Gassen sind entlang der bunt bemalten Häuser immer von stark erhöhten Gehsteigen eingefasst, da die Insel in der Regenzeit gerne mal überflutet wird. Um den Hauptplatz herum werden gerade die ersten Souvenirstände aufgebaut. Lotti und Mäge erstehen einige hübsche Muschelketten. Der Rest ist der übliche Kitsch, hier einfach im Mexcaltitan Stil. Gekreuzigte aus Muscheln, Kugelschreiber mit Federn geschmückt, bemalte Teller für die Sammlung an der Wand, die Virgen de Guadalupe über der Insel wachend, kleine Puppen mit bunten Trachten, bunt bestickte Servietten, Kaffeetassen in Form einer prallen Brust, das meiste reichlich geschmacklos. Wir schlendern gemütlich durch die Gassen und erhaschen immer wieder Blicke in dunkle Zimmer und grüne Innenhöfe. Die Häuser sind sehr klein und werden offensichtlich meist von Grossfamilien bewohnt. Auf Sesseln wird die saubere Wäsche in Ermangelung eines Kleiderschrankes aufbewahrt. Und auf der sauberen Wäsche lümmelt sich ein Jüngling, weil es eben nicht viele weitere Sitzmöglichkeiten gibt. Oft sind die Wände mit Sammlungen von bunten Tellern, Heiligenbildchen und Familienfotos überladen. Nippes hat sich auf der einzigen Kommode im Wohnzimmer angesammelt. Fast jeder Haushalt verkauft irgendetwas. Kühle Getränke, Süssigkeiten, Tamales mit Garnelenfüllung, ausgebackene Fische, eiskaltes Bier, und vieles mehr.
Bald schon stossen wir auf der anderen Seite der Insel wieder ans Wasser. Reiher, Kormorane und Pelikane sonnen sich auf Sandbänken. Ein Haufen Müll wird gerade verbrannt. Vom gegenüberliegenden Ufer nähert sich ein Boot, das von einem sonnen- und wettergegerbten Fischer mit einer langen an einer Seite abgebogenen Staken-Stange fortbewegt wird. Vor einigen Häusern glitzern kleine silbrige Fische, die auf Holzgestellen zum Trocknen ausgelegt sind. Vor einem Restaurant werden ebendiese Fische über der Glut gegrillt, im Dutzend in braunes Papier eingepackt und an hungrige Touristen verkauft. Wir verkneifen uns tunlichst, dies zu tun, da wir wissen, dass diese Fischart am Lagunenboden nach Nahrung sucht und damit einen prädestinierten 'Abfalleimer' der Zivilisation darstellt (schliesslich werden die Abwässer der Kommune auch direkt in die Lagune 'entsorgt'). An dieser Ecke der kleinen Insel befindet sich auch das einzige Hotel, das luftig und sauber aussieht und eine hübsche Terrasse mit Seesicht hat. Vor einem Haus mit kleinem Garten ist eine Virgen de Guadalupe schon fast ganz von einer Opuntie überwachsen worden. Grell lilafarbene Bougainvilleen ranken sich in violett blühende Jacarandabäume. Die kleinen Häuschen sind in schönen Pastellfarben angemalt. Die ganze Insel explodiert förmlich mit Farben und Gerüchen.
In einem Restaurant am Hauptplatz, wo nur die laute Popmusik aus der Stereoanlage stört, stärken wir uns mit einem zimtigen Kaffee. Nach der Messe treffen sich die Bewohner vor der Kirche unter den schattigen Bäumen des Hauptplatzes und tauschen den letzten Klatsch und die neuesten Neuigkeiten aus. Viel kann hier allerdings seit gestern nicht passiert sein. Das Leben plätschert gemütlich vor sich hin und Stress kommt bestimmt selten auf. Langsam erscheinen die ersten Sonntagstouristen auf der Bildfläche. Die Souvenirstände sind nun alle vollständig aufgebaut. Vor den Restaurants wird einem das Menu mündlich vorgetragen. Wir machen noch eine zweite Runde um die letzte Hälfte der Insel herum und entdecken doch tatsächlich noch zwei Gassen, die wir vorher nicht gesehen hatten.
Nach ein paar Stunden auf Mexcaltitan haben wir dann aber wieder mal genug Touristen gespielt. Der gleiche Bootsführer, der uns schon hierher chauffiert hat, erwartet uns am Steg. Wieder ist die Fahrt durch die Mangrovensümpfe mit den vielen Wasservögeln ein Erlebnis für sich, dessetwegen sich ein Besuch von Mexcaltitan alleine schon lohnt.
Um unseren Besuch am Meer abzurunden, fahren wir zurück nach Santiago Ixcuintla. Am Stadteingang stoppen wir beim "Centro Cultural Huichol", wo uns nach langem Klopfen ein kleines Mädchen endlich die Türe öffnet. In verschiedenen Räumen ist Huichol Kunsthandwerk ausgestellt. An den Wänden hängen die bekannten aus buntem Garn gestickten Bilder. Eine Unzahl von geschnitzten Holztieren, die dicht mit bunten Perlen beklebt sind, macht die Auswahl schwierig. Zeremonielle Hüte, Taschen, Masken und Kleider stehen ebenfalls zum Verkauf. Immer ein beliebtes Mitbringsel sind die hübschen Halskettchen, Armbänder und Ohrringe, alle aus bunten Perlen hergestellt. Immer wieder fällt uns die Form des Peyote (Lophophora williamsii) und des Maiskolbens auf, die aus Perlen in Schmuck, Bilder und Kleider eingearbeitet wurden. Nach langem Hin und Her überzeugen wir die Verkäuferin und Hausmeisterin, dass wir gerne den Xoloitzcuintli, einen nackten Hund ganz ohne Fell, sehen würden. Die Azteken züchteten diese Rasse u.a. auch wegen ihres schmackhaften Fleisches. Zuerst schickt die Frau ihre beiden Buben auf das Dach, doch die beiden haben keinen Erfolg. Schliesslich dürfen wir über eine Wendeltreppe selber auf die Terrasse hochsteigen. Der dunkelhäutige Hund versucht, sich zu verstecken und wird von seinen Besitzern und v.a. den Kindern sichtlich nicht sehr freundlich behandelt. Erst nach geduldigem Zureden können wir uns nähern und ihn streicheln. Schliesslich hat er so viel Zutrauen gefasst, dass er am liebsten gerade mit uns mitkommen würde.
Nun fahren wir entlang der Küste über San Blas an die Playa Platanitos. Im einzigen Hotel, das auch schon bessere Zeiten erlebt hat, aber eine schöne Terrasse mit toller Sicht aufs Meer und den Sonnenuntergang hat, kommen wir für ein paar Tage unter. Zu Fuss ist es nicht weit bis an die kleine Bucht mit den vielen mit Palmwedeln bedeckten Strandrestaurants. Das Wasser ist angenehm warm. Wir installieren uns in einem Strandrestaurant, beobachten die in Einerkolonnen knapp über der Wasseroberfläche fliegenden Pelikane, wehren Schmuck- und Hängemattenverkäufer ab und faulenzen nach Herzenslust. Kommt ein kleines Hungergefühl auf, bestellt man sich einfach ein kaltes Bier und Empanadas de Camaron oder ein paar Tostadas de Ceviche. Wenn der Appetit dann so richtig angeheizt ist, kann man sich hinten beim Grillmeister einen frischen Fisch aussuchen gehen, der dann auf dem Grill zubereitet wird. Pescado zarandeado heisst diese Spezialität. Am besten schmeckt dafür ein Huachinango, ein roter Schnäpper, der geschickt flach aufgeschnitten und wie ein Schmetterling aufgefaltet wird. Der Fisch wird mariniert und über der Glut gegrillt. Danach wird die Köstlichkeit auf einem grossen Tablett mit Salat, Bohnen, Reis, Limonenscheiben und scharfer Salsa angerichtet und serviert. Mit der Gabel und mit Hilfe der Hände klaubt man sich die besten und zartesten Fischstücke von den Gräten. Mit etwas Glück begleitet einen im Hintergrund nur immer das Rauschen des Meeres und keine laute Bumm-Bumm-Musik aus einer Musikbox. Danach steigen wir zu unserem Hotel hinauf, setzen uns auf die Terrasse und stossen im Sonnenuntergang mit Tequila auf einen weiteren grandiosen Tag an.
März 2008
Julia Etter & Martin Kristen
|