travelog 72






Geburt eines Flugkünstlers



Für unsere europäischen Leserinnen und Leser wollen wir diesmal von einem Tier berichten, das sie höchstens von Fotos oder aus einem Urlaub auf dem amerikanischen Kontinent kennen, dem Kolibri. Dier amerikanischen Besucher unserer Webseite kennen Kolibris wahrscheinlich, einige beobachten sie vielleicht im eigenen Garten oder haben sogar einen "Feeder", eine Fütterstation, aufgehängt, doch die wenigsten werden die Entwicklung vom Ei zum flügge werdenden Jungvogel je beobachtet haben. Durch pures Glück haben wir ein Kolibrinest mit zwei Eiern entdeckt und konnten so die Geburt und Aufzucht eines Kolibris mitverfolgen.



Kolibris werden allgemein als kleine Vögel mit farbigem Federkleid und langem Schnabel beschrieben, doch eigentlich sind sie sehr unterschiedlich. Es gibt ungefähr 340 verschiedene Kolibriarten, die in die Familie der Trochilidae gehören. Der kleinste Kolibri, der Bienenkolibri (Mellisuga helenae), stammt aus Kuba und ist mit seinen 1,8 Gramm eines der kleinsten warmblütigen Tiere überhaupt. Der grösste Kolibri, passend Riesenkolibri genannt (Patagona gigas), stammt aus Südamerika und kann bis zu 24 Gramm wiegen, mehr als viele Singvögel. Doch durchschnittlich wiegt ein Kolibris ca. 3 Gramm. Sein Federkleid kann relativ langweilig und farblos sein, aber auch grell und knallig bunt. Auch der Schnabel ist ganz unterschiedlich. Mal ist er wie ein normaler Vogelschnabel geformt und eher kurz, es gibt aber auch Kolibris, deren Schnabel die Hälfte ihrer ganzen Körperlänge misst. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zu allen anderen Vögeln, nämlich ihren Flug. Kolibris können schwebend fliegen, ähnlich wie Insekten. Auch andere Vögel können für einige Flügelschläge kurz in der Luft stehen, doch Kolibris können dies für eine sehr lange Zeit. Ausserdem fliegen sie mühelos rückwärts, senkrecht nach oben und unten, und von einer Seite zur anderen. Ihre Flügel bewegen sich zwischen 15-80x pro Sekunde. Das ergibt ein summendes Geräusch, nach dem die Kolibris in vielen Sprachen benannt wurden. Zum Beispiel "Hummingbird" vom englischen "hum" (summen). Die Mayas nannten den Kolibri "tz'unun", im spanischen wird er auch "zumbador" genannt. Es gibt auch Namen, die seiner Verbindung mit Blumen Rechnung tragen wie z.B. das spanische "chuparosa", das portugiesische "beijaflor", oder das französische "suce-fleur".



Kolibris kommen nur in Nord- und Südamerika vor, wo sie vom südlichen Alaska und Kanada bis nach Feuerland anzutreffen sind. Die Mehrheit der Kolibris allerdings findet man im tropischen Zentral- und Südamerika. In Europa kann man ein anderes fliegendes Tier beobachten, das entfernt an einen Kolibri erinnert, nämlich das Taubenschwänzchen (Hummingbird Hawk-moth) (Macroglossum stellatarum). Dieser Nachtfalter, der untypischweise auch tagsüber unterwegs ist, kann wie ein Kolibri schwebend fliegen und macht ebenfalls ein summendes Geräusch.



Das Federkleid der Kolibris ist meist iridisierend. Schimmernde und wechselnde Farbtöne werden durch das Pigment Melanin produziert, das normalerweise Licht absorbiert um Schwarz-, Grau- und Brauntöne zu produzieren. Beim Kolibri reflektiert und bricht Melanin das Licht. Dieses Pigment kommt in flachen Partikeln vor, die extrem kleine Luftblasen einschliessen, die dann wie Prismen wirken und weisses Licht in seine Farbbestandteile aufbrechen bevor diese von der Feder zurückreflektiert werden. Die iridisierenden Federfarben wechseln je nach Position der Federn, des Beobachters und der Lichtquelle. Kehlkopffeder eines Kolibris können so z.B. scharlachrot, rot-orange, gelb-orange, goldgelb oder auch schwärzlich erscheinen. Bestimmte Kolobriarten haben auch eine iridisierende blau schimmernde Brust, andere ein violettes Käppchen auf dem Kopf - immer im richtig einfallenden Licht gesehen.



Kolibris ernähren sich von Nektar und Insekten. Der Nektar der Blumen, die von Kolibris besucht werden, ist reich an Zucker, speziell an Saccharose. Mit Ausnahme der Insekten haben Kolibris den effizientesten Metabolismus der Tierwelt, den sie brauchen, um das schnelle Schlagen ihrer Flügel zu ermöglichen. Um am Leben zu bleiben, müssen die Vögelchen bis zu 1 1/2 ihres eigenen Körpergewichts an Nahrung täglich konsumieren.

Entgegen des Mythos, dass Kolibris nur von der Farbe Rot angezogen werden, ernähren sie sich von Blumen aller Farben. Wichtig ist v.a. die höchste Nektarproduktion und höchste Zuckerkonzentration. Kolibris sind wichtige Bestäuber, da sie im Gegensatz zu Insekten weite Distanzen zurücklegen können und auch bei schlechtem Wetter fliegen. Typische Blumen sind röhrenförmig und variieren in Rot-, Orange- und Rosarottönen. Rot ist nicht attraktiv für Bienen, das bedeutet weniger Konkurrenz für die Kolibris, ausserdem machen es röhrenförmige Blüten den Insekten schwerer, sie zu bestäuben. Diese Blumen sind ausserdem reich an Saccharose, im Gegensatz zu von Insekten bestäubten Blumen, die reicher an Glukose und Fruktose sind. Uebrigens mögen wir Menschen Saccharose auch viel lieber als die "einfachen" Zuckerarten ! Kolibris ernähren sich aber auch von Insekten wie Fliegen, Mücken und Blattläusen, da diese viele lebenswichtige Nährstoffe beinhalten. Besonders abends wird so viel wie möglich getrunken, um die Nacht lebend zu überstehen. Die Vögelchen verdauen ihre angestauten Reserven während sie schlafen. Stress wie kalte Temperaturen, lange Nächte oder ungenügend Nahrung führen bei Kolibris zu einem Zustand, der Torpidität genannt wird. Es ist ein Zustand, der der Ueberwinterung anderer Tiere ähnlich ist, bei dem Atmung, Herzschlagrhythmus und Köpertemperatur dramatisch reduziert werden. Dies ist eine effiziente Weise, Energie zu sparen, doch es macht den Vogel auch anfälliger für Gefahren, weil er nicht schnell genug reagieren kann.



Kolibris sind an und für sich sehr asoziale Vögel. Sie verteidigen ihr Revier und ihre Nektarquellen vehementestens gegen Eindringlinge. Der Nestbau, das Ausbrüten der Eier und die Aufzucht der Jungvögel sind ganz der Mutter überlassen. Weibliche Kolibris bauen ihr Nest bevor sie sich paaren. Normalerweise werden zwei Eier gelegt, die für uns sehr klein aussehen, doch im Verhältnis zum Kolibrikörper relativ gross sind. Die Brutzeit dauert 12-22 Tage. Um die Jungvögel zu ernähren würgt die Mutter einen Brei aus halbverdauten Insekten ins Maul der Jungen. 9-12 Tage nach der Geburt haben die jungen Vögelchen genügend Federn, um ihre Körpertemperatur aufrechterhalten zu können. 18-28 Tage nach dem Ausschlüpfen verlassen die Jungen schliesslich das Nest. Allerdings sind sie noch 1-4 Wochen von der Mutter abhängig, von der sie gefüttert werden und Jagdtechniken und Nektarquellen gezeigt bekommen. Kolibris werden durchschnittlich 3-5 Jahre alt, doch es gab auch schon 12 Jahre alte Vögel.



Nun aber nach der ganzen Theorie endlich zu unserem Kolibrinest. Wenn die Kolibrimama nicht gerade unterwegs auf Nektarsuche ist, kuschelt sie sich entweder ganz bequem in ihr kleines Nest oder bringt neue Federchen, trockenes Gras und sonstiges weiches Material, das sie liebevoll in ihr Nest einbaut. Andere Kolibris verscheucht sie mit lautstarkem Gezwitschere. Und auch wir sind nicht sonderlich erwünscht, doch uns wird sie nicht so einfach los. Jeden Tag schauen wir zweimal nach, ob wohl schon ein Junges aus einem Ei geschlüpft ist, doch wir werden eine ganze Weile lang enttäuscht. Dann plötzlich eines Nachmittags entdecken wir ein seltsames Etwas im Nest. Eine Eierschale ist zerbrochen, das andere Ei noch unberührt. Das seltsame Etwas entpuppt sich als eben erst geschlüpfter Kolibri. Völlig nackt ist das arme Ding, winzig klein und mit einem kleinen weissen Punkt am Kopf, den man nur dank eines Haarbüschels, das wie aus einem Comic ausschaut, als solchen erkennt. Was mit dem zweiten Ei passiert, entzieht sich unserer Kenntnis. Es scheint so, als ob nie ein Jungvogel ausschlüpft. Vielleicht hat der Erstgeschlüpfte Bruder- oder Schwestermord begangen, um die volle Aufmerksamkeit der Mutter zu haben.



Unser Vögelchen entwickelt sich prächtig, und vor allem sehr schnell. Bald schon ist wirklich ein Vogelköpfchen erkennbar, das Federbüschel auf dem Kopf wird etwas dichter und auch sonst spriessen die Federn. Sogar ein Schnabel beginnt sich langsam zu formen und so ist es einfach zu erkennen, wo bei unserem Nachwuchs vorne und hinten ist. Mutter Kolibri ist nun immer sehr beschäftigt auf Futtersuche und bleibt dem Nest längere Zeit fern. Das Kleine scheint sich an unsere Gegenwart gewöhnt zu haben, schliesslich steigen wir jeden Tag auf die Leiter und fotografieren. Erstaunlich schnell sieht unser Jungvogel wie ein richtiger Kolibri in Miniaturform aus und nach ca. 3 Wochen ist er flügge und wir können ihn später nur noch an verschiedenen Blumen erkennen, da er wesentlich kleiner als die anderen Kolibris ist.



Kolibris sind faszinierende Vögel und man kann Stunden damit zubringen, ihnen zuzuschauen. Ein Nest zu finden und einem Jungvogel beim aufwachsen zuzusehen, ist ein unvergessliches Schauspiel. Uebrigens soll es nach mexikanischem Volksglauben Glück bringen, wenn man ein Kolibrinest findet. Na, dann warten wir mal, was uns das Glück so bringen mag !



September 2006



Julia Etter & Martin Kristen