travelog 69






Mexikanisches Blütenwunder



Was normalerweise eine Suchaktion mit möglichst vielen Augen und auf allen vieren ist, kann zur richtigen Zeit am richtigen Ort ein Kinderspiel sein. Ariocarpen in Blüte zu sehen, war schon lange ein Traum von uns, und dieses Jahr erfüllten wir ihn uns zusammen mit unseren Freunden Nesa und Fredy Heschel, an die Ihr Euch ja bestimmt noch aus früheren Reiseberichten erinnert. Zusammen zogen wir also durch die mexikanischen Bundesstaaten Tamaulipas, Nuevo Leon und San Luis Potosi. Ein anderer Freund, Jean-Marc Chalet, auch jemand, der in Kakteenfreunden-Kreisen nicht ganz unbekannt ist, war so nett, uns diverse Standorte zu verraten, andere kannten wir schon selber. Zum Schluss konnte er der Lust auch wieder mal etwas im Feld herumsteigen nicht widerstehen, und so begleitete er uns denn auch für einige Tage.



Der erste Stopp ist unweigerlich nahe Huizache, einer bei Kakteenfreaks extrem bekannten grossen Strassenkreuzung. Die improvisierten Strassenstände entlang der Autobahn sind immer noch in Betrieb, obwohl schon verschiedene Leute und Organisationen für deren Entfernung gekämpft hatten. Kaum nähern wir uns einem zusammengezimmerten Holztisch mit Haufen von Kakteen darauf, rare und normale, kommen auch schon Kinder angerannt. Getrocknete Klapperschlangen hängen über einer Stange, ein Raubvogel schwitzt in der prallen Sonne, sogar das Fell eines Luchses ist zum Verkauf angeboten. Etwas abseits scheint die Familie in einer primitiven Hütte zu wohnen, die aus nicht viel mehr als Wellblech, Tüchern und Karton besteht. Kaum merken sie, dass Nesa und Fredy eigentlich nur fotografieren und filmen wollen, kommen die Erwachsenen wütend angerannt und wir suchen schnell das Weite. Kurz darauf passieren wir einige Schilder, eine Novität hier, die uns darauf aufmerksam machen, dass der Kauf illegal gesammelter Pflanzen (und Tiere) eine Straftat darstellt und mit Geld und Gefängnis bestraft werden kann. Eine mexikanische Absurdität, denken wir, den Kauf unter Strafe zu stellen, den Verkauf aber nicht zu verbieten ! Eigentlich sind wir aber wegen Ariocarpus kotschoubeyanus hier, den wir auch problemlos finden, denn die trockenen, sandigen Flächen, wo dieser ohne Blüten extrem unscheinbare Kaktus stark in den Boden zurückgezogen gedeiht, sind mit rosaroten Blüten übersät ! Wir sehen Pflanzen, wo wir vorher noch nie welche vermutet, geschweige denn gesucht hatten. Bald sind alle vier auf den Knien unterwegs und man muss sich schon sehr zusammennehmen, nur die schönsten Exemplare zu fotografieren.



In Tula treffen wir uns mit Jean-Marc, der uns schon tolle Geschichten von anderen blühenden Ariocarpen erzählt, die er gesehen hat. Tula ist bei Ariocarpen-Fans bekannt für Ariocarpus agavoides, auch dies eine Spezies, die ohne Blüten kaum zu finden ist, da sie in Farbe und Form ihrer Umgebung perfekt angepasst ist. Jean-Marc scheint genau zu wissen, auf welchen Hügel wir steigen müssen, allerdings wird auch er überrascht von Pflanzen, die er dank der dunkelrosaroten Blüten an Orten findet, wo er sie nie vermutet hätte. Da wir früh unterwegs sind, sind die Blüten noch fast nicht geöffnet. Wir steigen also zuerst weiter in die Höhe und begeben uns mit Erfolg auf die Suche nach Turbinicarpus ysabelae, dieser leider ohne Blüten. Danach hört man wieder von allen Ecken und hinter jedem Busch hervor laute Ah's und Oh's, jeder meint, das schönste Ariocarpus agavoides Exemplar gefunden zu haben, das natürlich vom Rest der Gruppe bestaunt und fotografiert wird. Bei den meisten Pflanzen ist nur die knallige rosarote Blüte zu sehen, die sich zur Mittagszeit auch voll öffnet. Der Rest des Pflanzenkörpers, der, wie der Name schon sagt, einer Agave ähnelt, ist weit in den Boden zurückgezogen. Wir müssen Nesa und Fredy fast mit Gewalt ins Auto befördern, so begeistert sind sie von diesem Standort. Doch als wir sie daran erinnern, dass wir heute noch einen anderen Ariocarpus in Blüte sehen wollen, lassen sie sich dann doch überzeugen. In Jaumave biegen wir auf eine kleine Piste ein und kommen bald schon an Obregonia denegrii vorbei, die hier zusammen mit Ariocarpus retusus ssp. trigonus wächst. Erstere ist nicht in Blüte und von letzterem haben die wenigen Pflanzen, die wir mit Knospen sehen ihre gelben Blüten noch nicht geöffnet oder schon wieder geschlossen. Doch Jean-Marc kennt einen weiteren Ort und dort haben wir Glück und finden viele grosse Pflanzen mit bis zu sieben Blüten. Jean-Marc fährt schon mal voraus, um ein spätes Mittagessen beim Balneario Los Nogales vorzubereiten, während wir weiterhin auf allen Vieren mit Kamera und Stativ herumkriechen. Beim Balneario erwartet uns Jean-Marc schon mit einem gedeckten Tisch. Wir stossen mit einem Drink aus Limonade, Eiswürfeln und Tequila auf den heutigen Blüten-Erfolg an. Danach brutzelt Jean-Marc auf einem kleinen Ofen Rühreier, die wir mit Brötchen und einer Thunfisch-Avocado-Mischung geniessen. Der Ort ist wunderschön, neben uns ein rauschender Fluss, hinter uns senkrechte Felswände, und etwas weiter entfernt der Zusammenfluss zweier Flüsse, die in einen tiefen Canyon verschwinden, der bei einem nächsten Besuch unbedingt untersucht werden muss - ein weiteres Zukunftsprojekt für unsere Liste, die täglich länger und länger wird.



Danach trennen wir uns für eine Weile von Jean-Marc. An unseren Crassulaceen hat er nicht sonderliches Interesse, das ist "Gemüse", das er eigentlich nie beachtet. Wir fahren auf der alten Strasse Richtung Ciudad Victoria und parken an der Passhöhe. Nun heisst es Rucksäcke und Fotoausrüstung schultern und sich ins Unterholz schlagen. Die Vegetation ist hier sehr dicht und vieles sticht oder brennt, so z.B. "Mala Mujer", die böse Frau, die zwar wunderschöne weisse Blumen hat, aber deren mit Haaren bewehrte Blätter und Stiele sogar durch dicke Jeans hindurch einen extrem juckenden Ausschlag provozieren. Bald schon stolpern wir über das erste Dioon aff. edule, eine in Mexico weit verbreitete Cycas-Art, die allerdings oft in grossen Mengen ausgegraben und am Strassenrand verkauft wird. Dann kommen wir an einen Felsen, der über und über mit einem weiss blühenden Sedum bewachsen ist. Währenddessen sind Nesa und Fredy auch nicht untätig gewesen und haben eine Echeveria für uns aufgespürt. Sie sind ganz begeistert von den gelb blühenden Ferocactus echidne var. victoriensis. Endlich erreichen wir senkrechte Felsen, wo wir tatsächlich auch das Pachyphytum werdermannii finden, dessentwegen wir eigentlich hierhergekommen sind. Aber nicht nur die Flora ist interessant, wir fotografieren auch diverse farbige Spinnen und eine Stabheuschrecke, die mit ihren grünschillernden Beinchen vergebens versucht, sich auf einer jungen Agave unsichtbar zu machen. Langsam fahren wir nun wieder Richtung Jaumave zurück und sehen noch viele interessante Pflanzen in den schattigen und teils sehr feuchten Felswänden entlang der Strasse. Doch der Höhepunkt, wenigstens für Nesa und Fredy, ist eine weitere Population von Ariocarpus retusus ssp. trigonus. Wir sind nachmittags gerade noch rechtzeitig gekommen bevor die Blüten sich langsam anfangen zu schliessen. Auch hier finden wir viele Pflanzen, die meisten mit unzähligen grossen gelben Blüten geschmückt.



Als nächstes fahren wir nach Miquihuana und weiter Richtung Dr. Arroyo. An einem hübschen Punkt oberhalb eines kleinen Tales, von dessen Hängen uns die roten Kugeln von Ferocactus pilosus entgegenleuchten, denen die Heschels wieder einmal nicht widerstehen können, stoppen wir für ein Picknick. Frische Brötchen, Käse, Avocado, Gurken und scharfe Chiles schmecken herrlich hier draussen. Während Nesa und Fredy ihren Feros nachrennen, finden wir an einer Hangseite Echeveria unguiculata. Wir haben früher schon gehört, dass diese Pflanze hier wachsen solle. Dass wir sie aber so leicht finden würden, das hätten wir nicht gedacht. Durch kleine, staubige Dörfer fahren wir Richtung Westen, immer mit dicken grauen Gewitterwolken im Nacken, deren Regen uns aber nie einholt. Bald erreichen wir wieder die Asphaltstrasse und drehen Richtung Norden. Wir kommen langsam in höhere und feuchtere Gebiete und die alten Eichenbäume sind über und über mit Tillandsia usneoides behangen. Bald kommt die unscheinbare Abzweigung nach Aramberri. Die Landschaft ist spektakulär schön. Die Strasse windet sich durch enge Täler und in der Ferne sieht es immer so aus, als ob sie irgendwo zwischen den Felsen eingeklemmt würde.



In Aramberri treffen wir uns wieder mit Jean-Marc, der unterdessen weitere Ariocarpen aufgespürt hat. Aramberri ist eine kleine Ortschaft mit einer geschlossenen Pemex-Tankstelle, man kauft Benzin und Diesel aus riesigen Fässern entlang der Strasse und bezahlt dementsprechend etwas mehr als normal. Von hier aus fahren wir weiter südwärts Richtung Zaragoza. Jean-Marc will uns in Gipshügeln unbedingt den Turbinicarpus zaragosae zeigen. Wir lassen Nesa und Fredy und ihn schon einmal vorgehen und die extrem unscheinbaren Pflanzen für uns suchen, denn genau an diesem Ort soll auch eine Echeveria vorkommen. Diese finden wir denn auch bald, es ist Echeveria cuspidata var. zaragozae. Wir wollen Euch hier nicht mit zu vielen Details langweilen, doch ca. 1/2km von hier entfernt, soll eine andere Varietät, nämlich Echeveria cuspidata var. gemmula vorkommen, was wir natürlich auch sehen wollen. Wir sind nicht sonderlich überrascht, als wir auch diese Population finden und feststellen, dass die beiden Varietäten absolut identisch sind ! Kein grosses Wunder, schliesslich wachsen sie genau am gleichen Ort und im gleichen Boden. Irgendwer hat da was mit den Lokalitäten durcheinandergebracht. Unterdessen sind die drei fündig geworden und bald schon ziehen wir weiter. Nördlich von Aramberri will uns Jean-Marc eine Population von Ariocarpus retusus zeigen, die auch schon mal ssp. confusus geheissen hat. Die Pflanzen haben nämlich nicht gelbe, sondern rosarote Blüten. Allerdings finden wir hier genau ein Exemplar mit fast weissen Blüten ! Ganz oben auf dem Hügel stehen die meisten Pflanzen und in der Mittagssonne haben sie ihre Blüten ganz weit geöffnet. Natürlich kriechen alle wieder wie die Wahnsinnigen herum und fotografieren viel zuviele Pflanzen. Wieder müssen wir die anderen zwingen dazu, sich zum Auto zu begeben, denn schliesslich wollen wir heute noch zwei weitere Standorte besuchen.



Nun geht es wieder Richtung Dr. Arroyo, wo wir nach Jean-Marc's Angaben irgendwo in der Ebene anhalten. Kaum steigen wir aus, sehen wir auch schon einen rosaroten Blütenteppich. Auch hier steht Ariocarpus kotschoubeyanus in voller Blüte. Es scheint, als ob hier Tausende von Pflanzen gleichzeitig am blühen sind, ein Spektakel, das mit blossem Auge viel besser wahrnehmbar ist als es später auf einem Foto reproduziert werden kann. Nun sind wir aber etwas in Eile, denn Jean-Marc hat noch einen Standort in petto für uns, den wir vor Sonnenuntergang erreichen sollen. Wir passieren Dr. Arroyo und begeben uns bald für kurze Zeit auf eine kleine Piste, parken an einem niedrigen Hügel und steigen etwas in der Höhe herum. Immer wieder treffen wir auf Löcher, Orte wo frühere Besucher eine Pflanze ausgegraben haben. Wir finden Pelecyphora strobiliformis in rauhen Mengen. Der Ariocarpus retusus macht sich da schon viel rarer. Schliesslich geben wir auf und stolpen keine fünf Meter vom Parkplatz entfernt auf eine einzelne Pflanze mit blassrosa Blüten, die noch knapp geöffnet sind.



Nun sind aber alle hungrig und wir sind schnell in Matehuala, wo wir die lokale Spezialität "Cabrito" vorgesetzt bekommen. Die Lammstücke werden auf einem kleinen Grill mit gebratenen Zwiebeln und gerösteten Chiles auf den Tisch gestellt und jeder bedient sich selber. Dazu gibt es wohlverdientes kaltes Bier.



Für den nächsten Tag liegt nur noch ein Standort vor uns, nämlich Ariocarpus bravoanus südlich von Huizache. Diese Pflanze hatten wir früher schon gesucht, sie waren zwar ohne Blüten, aber wir hatten sie bei früheren Besuchen trotzdem gefunden. Nun ging aber das Gerücht herum, dass der Standort völlig ausgeräubert worden sei. Falls noch Pflanzen vorhanden sind, müssten sie jetzt in Blüte sichtbar sein, also wagen wir einen Versuch. Zehn Augen suchen für drei Stunden und finden genau drei Pflanzen. Diese sind in Blüte und nur deshalb haben wir sie auch gefunden. Es scheint also wirklich so, als ob die anderen Pflanzen ausgegraben worden seien, denn wir finden an Orten, an die wir uns von früher erinnerten, keine einzige mehr. Schaut so aus, als ob wir alle geduldig darauf warten müssen, dass Samen keimen und mit viel Glück zu erwachsenen Pflanzen heranwachsen.



Hier trennen sich unsere Wege wieder. Jean-Marc fährt zurück nach Guadalajara und Nesa und Fredy fliegen weiter nach Venezuela, wo sie ihre Tochter besuchen gehen. Wir hatten eine extrem erfolgreiche Reise und unheimliches Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein ! Verständlicherweise haben wir uns hier in den Standortangaben sehr vage gehalten, denn wir wollen nicht zur weiteren Reduzierung der Populationen beitragen. Leider ist es so, dass Pflanzen-"Liebhaber" aus fernen Ländern die natürlichen Bestände dieser Pflanzen habgierig verringern anstatt zu Hause Pflanzen zu kaufen, die aus Samen angezogen wurden. Die langsame Ausrottung dieser interessanten Pflanzen jedoch nur den Ausländern in die Schuhe zu schieben, wäre verfehlt, denn gewisse Mexikaner haben den Wert dieser Naturschätze auch entdeckt und da es für sie kein Morgen gibt, wird hemmungslos bis zur letzten Pflanze, derer sie habhaft werden können, abgeräumt und somit ausgerottet. Dies scheint also die traurige Zukunft (nicht nur) für den Ariocarpus zu sein.



Dezember 2005



Julia Etter & Martin Kristen