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Dim Sum



Wir wollten Euch schon immer einmal etwas über eine unserer Lieblingsküchen erzählen: Chinesisch. Langweilig, werdet Ihr jetzt wohl denken, denn chinesisch kann man mittlerweile schon an jeder Ecke essen und es gibt sogar chinesische Fastfood-Ketten. Wir meinen jedoch eine ganz andere Variante der chinesischen Küche: Dim Sum.



Dim Sum heisst auf Kantonesisch etwa soviel wie "ein kleines bisschen Herz". Und genau das wird einem auch auf kleinen Tellerchen präsentiert.



Die besten Orte für Dim Sum sind logischerweise Städte, in denen es grosse Chinesen-Kolonien gibt. Vancouver mit seinen chinesischen Immigranten oder Victoria auf Vancouver Island sind ideale Orte an der Westküste von Kanada. Portland, Oregon, hat eine kleine Kolonie, doch das Dim Sum ist nicht sonderlich berühmt. Der beste Ort ist sicherlich Chinatown in San Francisco, wo man sich praktisch schon in China wähnen kann, mal abgesehen von den vielen mit Fotoapparaten bewehrten Touristen. San Francisco Souvenirs, Rückenkratzer, Yin & Yang Massagekugeln, chinesisches Geschirr, Postkarten zum Sonderpreis, herrlicher Kitsch, aber auch lebende Hühner, Frösche und Schildkröten, Gemüse direkt aus China eingeflogen, Kräuter und Tee und natürlich alle Arten von getrockneten Tieren können in den bevölkerten Strassen von Chinatown erstanden werden. Chinesisch ist neben "touristisch" die Hauptsprache hier. Und man hat eine reiche Auswahl an Restaurants, die über Mittag Dim Sum anbieten. Wir wollen Euch aber von unserem Dim Sum Abenteuer in Phoenix (Arizona) erzählen.





In die chinesische Szene hinein bekommen wir einen kleinen Einblick durch unseren Freund Neil, der erst eine chinesische Zeitung herausgab (ohne selbst diese Schrift lesen zu können, wohlgemerkt !) und seit kurzem selbst ein chinesisches Restaurant in der Peripherie von Phoenix managt. Er selber spricht kein Wort chinesisch, doch er ist in der ganzen Szene sehr gut bekannt und immer willkommen. Nicht selbstverständlich, da man als Weisser kaum je die Möglichkeit hat, in einer so geschlossenen Gesellschaft, die die Chinesen (oder auch die Japaner) darstellen, akzeptiert oder sogar aufgenommen zu werden. Mit ihm zusammen besuchen wir an einem Sonntag das erste Dim Sum Lokal in Phoenix. Da die Kundschaft eher spärlich ist, reserviert man sich am besten das Wochenende für einen richtigen Dim Sum Restaurantbesuch. Die Restaurants sind riesig und meist sind nur am Wochenende alle Tische besetzt. Chinesisch ist auch hier die Hauptsprache, ein Menu gibt es nicht und die Angestellten bringen oft nicht mehr als "chicken" auf englisch heraus. Das ist auch die Lieblingsantwort, wenn man sich nach dem Inhalt eines Gerichtes erkundigt. Der Kellner, der eigentlich nur für die Getränke und speziellere Bestellungen zuständig ist, bringt Tee oder Bier, die Standard-Getränke zu einem Dim Sum, und eine Karte mit in Gruppen aufgeteilten Feldern, auf

denen später die Gerichte, die man ausgewählt hat, eingestempelt oder eingetragen werden.



Nun kommt der spannende Teil. Auf kleinen Wägelchen werden nun lecker aussehende Gerichte an den Tischen vorbeigeschoben. Es liegt immer nur eine Kleinigkeit auf einem Teller, so dass es nicht tragisch ist, wenn man etwas ausgesucht hat, das einem nachher nicht schmeckt. Da die Angestellten eben oft kein Englisch sprechen, wählt man manchmal auf gut Glück und kann damit tolle Ueberraschungen erleben. Immerhin sehen Innereien in allen Küchen der Welt ungefähr gleich aus und Hühnerfüsse sind schon von weitem zu erkennen. Oft werden uns Touristen aber solche "Leckereien" gar nicht erst angeboten. Das Angebot beinhaltet z.B. geröstetes Schwein mit einer wunderbar süssen Kruste, bei dem man am besten alle Warnungen über Cholesterin vergisst. Oder frittierte Teigbälle mit unterschiedlichen Füllungen; gedämpfte Fleischkugeln oder in einen dünnen Teig eingepackte und gedämpfte Riesencrevetten und Jakobsmuscheln; oder Sesambällchen mit süssem Teig und salziger Fleischfüllung. Natürlich gibt es auch grünes Gemüse, gebackene Ente, Frühlingsrollen oder klebrigen Reis mit Hühnerstückchen und Pilzen in Lotusblätter verpackt. Man sollte sich allerdings tunlichst etwas Raum für die Süssigkeiten lassen ! Kleine Küchlein mit Pudding- und Kokosnussfüllung oder lauwarmes Hefegebäck mit süsser Füllung lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der gewiefte Dim Sum Esser nimmt sich diese Leckereien allerdings schon dann auf den Tisch, wenn sie auf dem Wägelchen vorbeigefahren werden. Man kann nämlich nie wissen, ob sie noch vorhanden sind, wenn man zum Dessert übergehen will.



Nützlich ist es allemal, sich ein Dim Sum-Vokabular zuzulegen, wenn man sich öfter in dieser Szene blicken lässt. So kann man schnell eine freundliche Miene auf ein mürrisches Gesicht einer Chinesin zaubern, die mit ihrem Wägelchen zwischen den Tischen hin und her kurvt, wenn man sich beispielsweise nach "Shu Mai" erkundigt.



Hat man sich erst einmal durch alle Delikatessen durchgegessen, ist für begeisterte Köche wie uns natürlich ein Besuch hinter den Kulissen angebracht. In grossen asiatischen Supermärkten kann man tiefgefrorenes Dim Sum kaufen, was natürlich Welten vom richtigen Zeug entfernt ist. Richtige Dim Sum Köche sind schwer zu finden und müssen gut bezahlt werden, lernen wir von unserem Freund. Da er Beziehungen zur Szene hat, schafft er es, uns Zutritt in eine Dim Sum Küche zu verschaffen. Der Besitzer ist gerade nicht anwesend, deshalb haben die Köche auch nichts dagegen, dass wir ihnen über die Schulter schauen und sogar Bilder machen. Nach Rezepten erkundigt man sich allerdings vergebens. Die Angaben für Zutaten und Mengen sind alle sehr vage, das Englischvokabular begrenzt, Improvisation scheint hier die Devise zu sein. Oder man hat das Handwerk im Blut ! Unsere Köche bestehen aus einem Vater, der gewissenhaft und voller Liebe Hunderte von kleinen Süssigkeiten formt. Die Mutter steht an der Herdfront und bereitet die laufenden Bestellungen zu. So z.B. weisse, relativ fade Nudeln mit verschiedenen Füllungen. Dafür giesst sie eine weisse Mischung aus Mehl und Wasser auf ein Tuch, das auf einem dampfenden Wasserbad liegt. Darauf werden entweder getrocknete Crevetten, Riesencrevetten oder gewürztes Schweinefleisch gegeben. Sie lässt alles gut durchdämpfen, nimmt das Tuch und stülpt die Masse auf eine eingeölte Arbeitsoberfläche. Die Nudeln werden aufgerollt, geschnitten und mit Sojasauce begossen und serviert. Der Sohn kümmert sich um den ganzen Rest und überwacht z.B. die kleinen Aluminium- oder Bambuskörbchen, in denen Fleisch- und Teigbälle gedämpft werden. Immer wieder kommen die Angestellten herein und verlangen Nachschub. Natürlich läuft alles auf chinesisch ab und wir verstehen kein Wort.



In einer Ecke der Küche steht ein Mexikaner aus Oaxaca, der gemütlich Fleisch schneidet oder schmutzige Töpfe abwäscht. Mit der chinesischen Küche hat er nichts am Hut, gesteht er. Zu Hause koche seine Frau immer noch mexikanisch, verrät er uns lachend. Ein Blick in die Küchen von chinesischen Restaurants, aber auch japanischen Sushi- und anderen Spezialitätenrestaurants in diesem Teil der Welt, fördert oft nur mexikanische Köche und Hilfskräfte zutage. Mexikaner sind willig, arbeiten billig und dies auch ohne Versicherung und Papiere. Natürlich haben diese Leute keinerlei Idee von chinesischer Küche. Da verwundert es auch nicht, dass das Resultat oft nicht berauschend ist.



Unsere Köche jedoch kommen aus China und sind stolz auf ihren Beruf. Falls wir jemals ein Dim Sum Restaurant in der Schweiz aufmachen wollen, würden sie uns gerne als Pioniere ihrer Garde folgen und ihre Leckereien auch in unserer zukünftigen Restaurantküche zubereiten ! Eine offensichtliche Marktlücke in Mitteleuropa, die wir jedoch gerne anderen Abenteuern überlassen wollen.



Wer an Martins Lieblingsrezept interessiert ist, kann hier auf den Link klicken und kommt direkt auf die Rezeptseite:



Chinesische Eierküchlein



P.S. Ein spezielles Dankeschön wollen wir an dieser Stelle unserem Freund Neil in Phoenix aussprechen, der uns mit offenen Armen aufnahm, uns sofort den Schlüssel zu seinem Haus in die Hand drückte und uns für unsere langen Stunden am Computer mit chinesischen Spezialitäten aus seinem Restaurant verwöhnte. Er bot uns ungefragt, was das Herz von Vollzeitcampern höher schlagen lässt: eine heisse Dusche, eine Waschmaschine und eine schnelle Internetverbindung ! Es ist schön, dass man überall auf der Welt immer wieder neue Freunde finden kann.



November 2002



Julia Etter & Martin Kristen