travelog 49

Ohne Schweiss kein Preis
Kaum unternimmt man die Anstrengung, aus dem Auto auszusteigen, ist das T-Shirt auch schon völlig durchnässt. Setzt man sich erst einmal in Bewegung, läuft einem der Schweiss langsam in die Augen, fangen die Kleider sofort an, am Körper zu kleben, leert man einen Liter Flüssigkeit problemlos in einem Zug hinunter. Will man dann auch noch einen Tafelberg besteigen, muss man schon einiges in Kauf nehmen. Doch was tut man nicht alles, um seine geliebten Pflanzen zu dokumentieren...
Diesmal ist es Agave impressa, eine unserer Lieblingspflanzen, die durch ihre weisse Zeichnung und die schöne Bedornung unserer Meinung nach zu den wohl schönsten Agaven gehört. Die Pflanzen wurden südöstlich von Escuinapa im südlichsten Zipfel des mexikanischen Bundesstaates Sinaloa zuerst entdeckt und beschrieben. Hier wachsen sie aber leider nur auf extrem unzugänglichen Tafelbergen, die von dichtem Dschungel umgeben sind. Nach unserer Erholung entlang der Pazifikküste fühlen wir uns allerdings fit genug, trotz hochsommerlicher Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit einen dieser Tafelberge auch im Sommer zu besteigen. Ausserdem wollen wir uns nach dem vielen Faulenzen auch wieder einmal körperlich betätigen.
Mit dem Fernglas sind die Agaven dank ihrer kerzengeraden Blütenstände sehr leicht auszumachen. Ausserdem glauben wir, mit dem Fernglas auch einen einigermassen begehbaren "Weg" über eine Flanke des Tafelberges entdeckt zu haben. Kaum haben wir aber die Mangoplantage verlassen, kommen wir nur noch mit Hilfe unserer Gartenschere vorwärts. Bald wird das Dickicht undurchdringlich, Spinnen hängen in ihren Netzen und verfangen sich in unseren Gesichtern, und wir sind nach einer Stunde Kampf gegen den Urwald schon fast am Ende unserer Thermosflaschen mit kühlem Tee, total erledigt und haben gerade mal schlappe 50m bergan geschafft.
Den zweiten Versuch wollen wir am Nordende desselben Tafelberges unternehmen. Ein Bauer auf einem Traktor zeigt uns verschiedene riesige Bäume, bei denen wir vorbeigehen müssen, um auf einem uralten Weg auf den Berg hinaufzukommen. Leider ist er zu sehr beschäftigt und kann uns nicht hochführen - sicherlich eine weise Entscheidung von ihm ! Wir parken bei einem kleinen Korral mit Pferden und Kühen und halten auf den ersten grossen Baum zu. Diesmal sind wir mit mehr Flüssigkeit ausgerüstet und haben die Hosenbeine in die Strümpfe gesteckt, um den winzigen Zecken möglichst wenig Angriffsfläche zu geben. Auf Kuhpfaden kommen wir relativ gut vorwärts bis zu einem riesigen Baum, der allerdings viel zu weit nördlich vom Tafelberg ist, wie wir feststellen müssen, als wir endlich wieder mal aus dem Dickicht herausschauen können. Hier gibt es zwar menschliche Spuren - Instant Lunch Tüten, Colaflaschen, Zigarettenkippen und sogar ein zerfleddertes Schwarzweiss-Heftchen mit Namen "Sexomania" - doch es führt kein Pfad mehr weiter in die Höhe. Wir entschliessen uns schweren Herzens, umzukehren. Für den heutigen Tag haben wir genügend gelitten, befreien uns von den Zecken, so gut es eben geht, und erfreuen uns an eiskaltem Bier.
Am nächsten Morgen taucht der Besitzer der Tiere leider nicht auf und so brechen wir eben auf eigene Faust wieder auf. In der Morgendämmerung soll es ja bekanntlich noch etwas kühler sein, doch kaum setzen wir uns in Bewegung, haben wir das T-Shirt auch schon wieder durchnässt. Immerhin versteckt sich die Sonne noch einige Zeit hinter dem Tafelberg und bald erreichen wir das Dickicht, wo wir im Schatten wandern können. Diesmal halten wir uns näher am Tafelberg und zielen auf einen anderen der grossen Bäume zu. Bald sind die Kuhpfade überwachsen und wir kämpfen uns mit Händen und Füssen durch den Dschungel. Bald sehen wir unseren Baum etwas weiter unten stehen, doch Martin rutscht auf dem vielen Laub aus und zieht sich einen unschönen tiefen Schnitt im Arm zu, den wir erst einmal notdürftig verarzten müssen. Beim Baum angekommen müssen wir feststellen, dass es auch hier keinen Weg gibt und wir uns weiter im trockenen Bachbett bergauf kämpfen müssten, ganz zu schweigen davon, ob wir oben auch einen Zugang auf den Tafelberg hinauf finden würden. Also heisst es zum dritten Mal: umkehren und zurück zum Auto !
Als wir endlich wieder beim Auto ankommen, treffen wir auf einen anderen Bauern. Selbstverständlich gäbe es einen Weg auf den Tafelberg hinauf ! Und selbstverständlich würde er uns gerne hinaufführen ! Wir stopfen schnell eine Kleinigkeit in den Mund, wechseln die tropfnassen T-Shirts, schütteln die hartnäckigsten Zecken von den Hosen, packen neuen Früchtetee ein und machen uns wieder auf den Weg. Zum vierten Mal versuchen wir, diesen verd.... Tafelberg zu besteigen ! Im Vergleich zu unserem Führer sind wir ausgerüstet wie für eine ernsthafte Expedition. Wir tragen richtige Wanderschuhe, schweisssaugende und schnelltrocknende T-Shirts, feste Hosen und haben unsere Wanderstöcke dabei. Unser Bauer schneidet sich von einem Palmwedel eine Halterung für seine Wasserflasche zurecht. Die Sohlen seiner Sandalen sind aus alten Autoreifen gefertigt, am Fuss sind sie mit dünnen Lederbändchen befestigt. Natürlich hat er nackte Füsse. Das beste jedoch ist eine kleine Zecke, die sich neckisch auf seiner Wange festgesaugt hat und sich immer wieder hin- und herbewegt, während der gute Mann auf uns einredet. Bis zu einem Elektromast am Fuss des Berges gibt es tatsächlich einen Weg, den die Kühe getrampelt haben. Danach hackt und schlägt uns unser Bauer den Weg frei. Er nimmt die Direktstrecke, die "Direttissima", steil eine Flanke des Tafelberges hinauf. Als wir uns vorsichtig nach dem angekündigten Weg erkundigen, verkündet er, dass er ihn soeben für uns aus dem Dschungel schlage ! Immerhin haben wir unsere Wanderstöcke, die das klettern etwas einfacher machen. Relativ erledigt erreichen wir endlich die untere Felskante des Tafelberges. Tatsächlich gibt es hier einen kleinen Durchgang durch die riesigen Felsbrocken, den man allerdings kennen muss, um ihn auch zu finden. Früher kamen die Bauern hier hoch, um Rehe zu schiessen, die sich an einer Tränke labten. Doch die Rindviecher haben die natürliche Tränke zum versiegen gebracht, die Rehen blieben aus, die Bauern hatten nichts mehr zum schiessen, und der Weg auf den Tafelberg hinauf verwilderte langsam.
Endlich oben angekommen können wir gerade noch einen Berglöwen fauchen hören, bevor er im Gebüsch verschwindet. Es riecht hier wie in der Raubtierabteilung des Zoos. Eigentlich hatten wir ja gedacht, dass man hier oben etwas einfacher vorwärtskommt, doch so kann man sich täuschen. Auch jetzt muss der Bauer kräftig um sich hacken, um uns einen kleinen gangbaren Weg zu bahnen. Bald jedoch kommen wir bis an den steilen Abgrund des Tafelberges hin und entdecken hier auch unsere Agave impressa, für die wir diese Tortur auf uns nehmen. Die Pflanzen wachsen nur nahe an oder in den senkrechten Wänden, zusammen mit einer grossen Hechtia sp. und rotstämmigen Bursera sp.. Wir haben einen tollen Ausblick auf die Sümpfe und Lagunen südlich von Escuinapa. In der Ferne ist sogar der Pazifik zu sehen. Und weit unter uns, im Schatten grosser Mangobäume, wartet PocoLoco geduldig auf unsere Rückkehr. Der Abstieg ist relativ einfach, man muss nur aufpassen, dass man nicht zu schnell den Berg hinunterrutscht. Als Belohnung und Erfrischung pflücken wir kleine rote Pflaumen von des Bauers Bäumen, die herrlich saftig schmecken. Natürlich bezahlen wir den Bauern für seine Dienste und schenken ihm auch noch eine Tafel Schweizer Schokolade.
Zurück beim Auto, sind wir glücklich, den Berg nach dem vierten Anlauf endlich bezwungen zu haben. T-Shirt wechseln, waschen, Zecken aus den Hosen schütteln und vom Körper klauben, Dreckwäsche in eine Tüte packen und verschliessen, um die Zecken in Schach zu halten, und ab nach Escuinapa für eine grosse Ladung Tacos. Noch Tage später finden wir immer wieder eine kleine Zecke auf uns, die verzweifelt nach einer Blutquelle sucht. Doch wir sind nicht bereit, etwas von unserem wertvollen Lebenssaft abzugeben.
Juni 2002
Julia Etter & Martin Kristen
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