travelog 47






Die ortskundige Reiseleitung



Die Akteure sind bekannt aus einem Reisebericht, der vor 2 Jahren auf der Baja California entstanden ist. Diesmal trifft man sich auf dem Parkplatz des WalMart Supercenters in San Luis Potosi, Mexico. Unsere beiden Freunde Nesa und Fredy kommen von Mexico City mit dem Bus bis nach San Luis Potosi, um danach wieder einmal eine kleine Rundreise unter der kundigen Führung der Reiseleitung Etter-Kristen zu unternehmen. Die Planung via E-Mail ist diesmal etwas einfacher, da es im zentralen Teil von Mexico viel mehr Internet Cafes gibt - oder vielleicht auch, weil 2 Jahre Entwicklung in Sachen Computer nicht spurlos an Mexico vorbeigegangen sind. Mit gefüllten Kühlschränken und geputztem Auto warten wir auf unseren Besuch. Dieser kommt mit etwas Verspätung per Taxi zum vereinbarten Treffpunkt, mit Zelt und Schlafsäcken, mit Schokolade-Nachschub aus der Schweiz und einigen Ersatzteilen für's Vehikel. Natürlich wird das Wiedersehen in Mexico gebührend mit einer Flasche Champagner begossen !



Gleich in den ersten Tagen können unsere beiden Freunde in einigen Kakteen-Highlights schwelgen. Der mexikanische Bundesstaat San Luis Potosi ist ein Paradies für Kakteenliebhaber ! Als gute Reiseleitung hatten wir natürlich die geplante Strecke schon einmal abgefahren und viele Kakteen vorsichtshalber schon einmal gesucht, uns deren Standort gemerkt (nicht immer erfolgreich), um auch ja unserem Ruf als gewissenhafte Reiseleitung keine Schande zu machen. Der erste Tag vergeht mit der etwas mühsamen Suche nach Ariocarpus bravoanus, dessen Standort wir uns zwar gemerkt hatten, doch in der Zwischenzeit sind die Pflanzen wegen der Trockenheit noch mehr geschrumpft und wir vertun uns etwas bei der Erinnerung an die "ganz leicht zu merkenden" Positionen von grossen Yuccas. Fredy, der kein so gutes Auge für die kleinen versteckten Kakteen hat, überlässt uns die Suche und ist anschliessend auch eher enttäuscht, dass dieser Ariocarpus auf dem Videofilm so wenig hergibt. Was der Ariocarpus an Begeisterung nicht hervorrufen kann, schaffen dafür die riesigen Exemplare von Echinocactus platyacanthus, richtige Fässer, die aus ihrem gelben wolligen Scheitel grosse leuchtend gelbe Blüten schieben. Ein weiteres Highlight der ersten Tage ist ein gemütlicher Uebernachtungsplatz inmitten eines reichen Kakteengebietes. Im sandigen Boden wächst Lophophora williamsii, vielleicht besser bekannt unter dem Namen Peyote. So grosse Polster wie hier haben wir noch nie gesehen ! Ausserdem schmücken sich die Pflanzen zu dieser Zeit mit feinen rosaroten Blüten. Neolloydia matehualensis besticht durch ihre leuchtend dunkelvioletten Blüten. Echinocereus pectinatus ist schon fast verblüht, doch mit etwas Glück kann man immer noch offene Blüten finden. In den Felsen wächst Mammillaria candida, ebenfalls mit rosaroten Blütenkränzen. Seine Füsse muss man vorsichtig positionieren, um nicht auf die flach in den Boden eingesenkten Exemplare von Ariocarpus retusus zu steigen. Das geübte Auge kann in den moosigen Felsritzen auch Turbinicarpus schmiedickeanus ssp. klinkerianus entdecken. Doch landschaftsbestimmend sind Agave lechuguilla, Agave striata ssp. striata und eine Hechtia sp., die hier als Bodendecker wachsen. Nach den ausgedehnten Erkundungsgängen in die Umgebung setzt man sich gerne in den Schatten eines Busches und geniesst ein kaltes Bier. Das Zelt wird immer möglichst hinter unser Auto gestellt, so dass es so gut wie unsichtbar ist. Das grosse Auto bietet auch etwas Wind- und Staubschutz, nur

gegen den oft abends einsetzenden kurzen Regenguss ist kein Kraut gewachsen.



Nach den ersten Tagen fühlen wir uns bald nicht mehr als Agaven- und Crassulaceen-"Spezialisten", dafür aber als Kakteenkenner. Das mitgebrachte Monumentalwerk von Ted Anderson "The Cactus Family Handbook" hilft uns sehr bei der Bestimmung. Wir fahren vorbei am kleinen Ariocarpus kotschoubeyanus, der nur durch seine Struktur in einem trockenen See zu erkennen ist. Etwas weiter in den Hügeln gibt es grüne, braune und silbrige Exemplare von Astrophytum myriostigma, die durch ihre regelmässige Form bestechen. Wir finden weitere Turbinicarpen, blühende Mammillarien, viele Ferokakteen (die Lieblingspflanzen von Nesa und Fredy) in Blüte, aber auch epiphytische Orchideen und natuerlich unsere Lieblinge, Agaven und Crassulaceen. Nach zwei Tagen bei einer verlassenen Mine, wo u.a. Schwefel abgebaut wurde, bekommen wir auch schon Besuch von neugierigen Dorfbewohnern. Wenn sich einmal die kleinen Fliegen verzogen haben, kann man gemütlich mit einem Cuba Libre am

Lagerfeuer sitzen und den Sternenhimmel geniessen.



Auch kulinarisch können wir als Reiseleitung den beiden Schweizer Gästen einiges bieten. "Papas del Monte" sind winzig kleine wilde Kartoffeln, die in der Pfanne gebraten wunderbar schmecken. Kürbisblüten haben gerade Saison, die wir im Rührei verarbeiten. Natürlich schwelgen wir in saftigen Früchten, Mangos, Ananas, kleine süsse Bananen, Guayaba. Rindsfilet so viel man nur essen kann, gibt es hier zu einem Spottpreis. Nur mit Fisch sind wir so weit vom Meer entfernt etwas vorsichtiger. Unsere Uebernachtungsplätze finden wir an den unterschiedlichsten Orten. In der Not kann es auch schon mal neben einem Friedhof sein. Als uns eines Abends eine wahrscheinlich schon angetrunkene junge Frau belästigt (wobei uns alle auch ganz besonders ihr strenger Geruch nach unbekannter Hygiene zu schaffen macht) und einfach nicht mehr gehen will, muss Martin ein Machtwort als Chef der ganzen Truppe sprechen, was dann auch prompt nützt. Die Frau verschwindet samt ihrem Anhang, wir allerdings packen in der Dunkelheit auch unsere Siebensachen zusammen und finden unterhalb eines riesigen Marienaltars (ein in die Felsen gemaltes Bild der Virgen de Guadalupe, der Schutzheiligen von ganz Mexico) einen perfekten Platz, wo uns keiner mehr zu stören wagt.



Wie beim letzten Mal haben wir natürlich auch diesmal eine kleine Ueberraschung in petto. In den Bergen haben wir bei unserer ersten Erkundungs-Rundreise ein kleines Rancho gefunden, das wir mit Nesa und Fredy wieder besuchen wollen. Wir bringen "cecina", an der Luft getrocknete, sehr dünne Fleischfetzen mit und natürlich einige Flaschen Bier. Die Mutter und ihre vier Töchter bereiten das Fleisch zu und gemeinsam speisen wir in der dunklen rauchigen Küche. Die eigenen Bohnen, Tortillas aus eigenem Maismehl, süsser Kaffee mit Zimtgeschmack und eine scharfe Salsa aus wilden Chiles schmecken köstlich. Lange sitzen wir noch unter dem Sternenhimmel, die Hausfrau sortiert Bohnen, die Mädchen lauschen höflich unserem Gesang, der, manchmal mehr als falsch, Fredys Gitarrenspiel begleitet. Am nächsten Tag haben wir den Gastgebern versprochen, Fotos von der Familie zu machen, die wir auch gleich ausdrucken wollen. In hübschen Kleidern sind die Mädchen morgens schon unterwegs, doch als wir darauf hinweisen, dass man das gute Morgenlicht ausnutzen sollte, verschwindet plötzlich die ganze Familie in einem Häuschen etwas abseits. Zuerst kommt der Vater wieder, ein lebendiger Mexikaner mit französischem Grossvater, gekleidet in seine beste Hose, in ein weisser-als-weisses Hemd, auf dem Kopf seinen schönsten Sombrero. Nach einer Stunde Warterei werden wir langsam ungeduldig und der Vater spricht ein Machtwort: "Mujer !" ("Frau !"), worauf seine Frau sofort mit den vier Töchtern im Schlepptau erscheint. Wir fallen fast von den Stühlen !



Die Haare offen und glänzend gekämmt, dezent geschminkt, die zwei kleinen Mädchen in rosaroten Spitzenkleidchen, die mittlere ebenfalls in rosarot, und die älteste in einem violetten langen Abendkleid mit Spaghettiträgern, dazu schwarze Stöckelschuhe, Glimmerschminke auf den Wangen und die zwei unvermeidlichen Michael-Jackson-Locken, die ihr ins Gesicht hängen. Auch die Mutter, die wir nur mit ihrer Alltagsschürze kennen, ist nicht mehr wiederzuerkennen. Und das alles weitab von der nächsten Stadt, auf einem Rancho, wo Kühe und Ziegen gemolken werden und der Hausherr seiner Passion, der Zucht von Kampfhähnen frönt. Martin spielt den Fotografen, der mit den scheuen Töchtern zu kämpfen hat, die ihm als Mann (dazu auch noch ein Fremder) kaum in die Augen zu schauen getrauen. Die Eltern ermahnen die Töchter, bloss nicht zu lachen, um das Foto nicht zu verunstalten. Die zwei Söhne (die restlichen 6 Kinder arbeiten in den USA) lungern weitweg herum, erst später schauen sie sich die Fotos an, machen ihre Witze, doch man sieht ihnen an, wie eifersüchtig sie auf ihre Schwestern sind. Natürlich muss auch ein Gruppenbild her mit den Schweizer Gästen. Als einzige stürze ich mich schnell in einen Minijupe, eine weisse Bluse und schwarze Schuhe, was bei der Familie grossen Applaus hervorruft. Die anderen kommen mit ihrer Feldkleidung aufs Bild. Schnell hat man sich wieder umgezogen und schon stehen die Frauen wieder in der Küche und bereiten uns ein leckeres Frühstück zu.



Auch zwei Wochen haben mal ein Ende und so verabschieden wir uns von Nesa und Fredy am Busbahnhof in Guanajuato. Seit dem letzten Besuch sind die beiden schon etwas mutiger und abenteuerlustiger geworden, ausserdem haben sie etwas Spanisch gelernt, was einem das reisen in diesem Land auch etwas erleichtert, und so gehen die Abenteuer für sie nach der Rundreise mit uns gleich weiter: Tequila-Fabrik in Tequila und danach die berühmte Zugfahrt durch die Barranca del Cobre (Kupferschlucht). Wir geniessen für einige Tage die kleine Stadt Guanajuato mit den vielen bunten Häuschen, die in die Hügel gebaut wurden, den verwinkelten Gassen, den schattigen Plätzen, wo man an einem heissen Nachmittag gemütlich ein kaltes (und teures) Bier trinken kann, während man einer seiner Lieblingsbeschäftigungen frönt - vorbeiflanierende Leute beobachten.



April 2002



Julia Etter & Martin Kristen