travelog 46






San Luis Potosi



Unter einem perfekten Vollmond ziehen sie schweigend in langsamem, schleppendem, rhythmischem Schritt und in wohldurchdachter Formation ihren Weg durch die Altstadt. Ein Teil von ihnen eingehüllt in klerikale Gewänder mit Masken und Ku-Klux-Klan-ähnlichen Spitzhauben; die Frauen oft mit schwarzen Spitzenschleiern oder feinen Rebozos (= handgewobene Seidenschals); die Kinder, gekleidet wie Ministranten, eine Laterne mit sich tragend; dann wiederum immer wieder die Büsser mit blossen Füssen und rohem Gewand, die Fussketten rasselnd mit sich schleppen und schliesslich die Gruppen von schwitzenden und schwankenden Männern, die mit vor Anstrengung verzerrten Gesichtern grosse hölzerne Plattformen, auf denen in lebensgrossen Szenen die Leidensgeschichte Jesu' dargestellt ist, meterweise im Zug mitschleppen, um sie immer wieder auf mitgeführten Ständern abzusetzen und sich auszuruhen. Die Musik, die in diesem Zug intoniert wird, ist monoton und dauernd wiederkehrend. Nur Trommeln und Trompeten sind erlaubt, wobei nur eine einzige kurze Tonfolge gespielt wird. Von einem Kirchturm singt immer wieder eine klare Frauenstimme monotone Melodien.



Und als Krönung eine riesige Marienstatue mit kristallener Träne, die weitum bekannte "Mater dolorosa", auf einer grossen Plattform, mit hunderten vor ihr flackernden Kerzen, die die zu Tausenden angereisten Zuschauer dazu bringt, sich schweigend von ihren Sitzen zu erheben, die Kopfbedeckung abzunehmen und sich zu bekreuzigen.



Wir fühlen uns in das mittelalterliche Spanien zurückversetzt. Und doch ist es anders, mexikanischer !



Es ist die "Procesión del Silencio" (= Prozession des Schweigens), weltbekannt, die jährlich in San Luis Potosí, einer der alten Minenstädte des ehemals spanischen Ueberseebesitzes, am Abend des Karfreitags hier zelebriert wird. Es ist ein weitum berühmtes Ereignis, zu dem die Menschen von nah und fern aus ganz Mexico anreisen. Strassenhändler versuchen ihren Vorteil daraus zu ziehen, Zuckerwattefetzen fliegen durch die Luft, Menschengruppen schieben sich durch die Gassen und Parks und über die geräumigen Plätze der Altstadt, Restaurants und Cafés sind zum Bersten gefüllt mit heiteren, schwatzenden Menschen. Es ist ein kleines Volksfest, wenngleich mit ernsterem Hintergrund, entstanden aus einem tiefen katholischen Glauben.



Wir setzen uns gemütlich auf die vorbestellten Stühle, die entlang des Prozessionsweges für gerade mal 30 Pesos (8 Mark, 6 Franken oder auch 4 Dollars) reserviert werden konnten und frönen einem unserer Hobbies: Menschen beobachten ! Viele Gesichtszüge haben hier einen indianischen Einschlag, besonders sichtbar durch die typische, runde "Aztekennase" und die etwas fliehende Stirn, jedem bekannt von den Stelen der Mayas Mittelamerikas. Da sind die Menschen von den Ranchos, die im Sonntagsstaat und in striktem Familienverband durch die Stadt schlendern. Da ist der Cowboy mit seinem typischen Hut, dem unvermeidlichen Gürtel und den spitzen Stiefeln, der mit seinen O-Beinen und dem etwas unsicheren Gang zeigt, dass er auf dem Pferd geboren wurde. Da sind die jungen Mädchen, meist zu zweit oder zu dritt, mit ihren etwas zu kurz geratenen Blusen oder zu enger Kleidung (wir sind erstaunt, wieviele Menschen hier schon in jungen Jahren leicht übergewichtig sind).



Da sind die typischen mexikanischen Machos, junge braungebrannte Männer, die im ärmellosen Unterhemd ihre Muskulatur spielen lassen, ihre Brustbehaarung zur Schau tragen (in denen sich das obligate Goldkettchen mit Kreuz immer wieder verfängt), und die oftmals ihre Hosen auf den Knien tragen. Und da darf natürlich auch die über und über aufgetakelte Tante, die mit ihren strohblond gefärbten Haaren, einem grellen maskenartigen Make-Up, einem Pepsodent-Lächeln, zentimeterlangen angepinselten Krallen, dem superengen Minirock und der knappstens bedeckender Bluse, auf ihren High-Heels vorbeiklappert, nicht fehlen - was die neben uns sitzende Dame aus der Aristokratie von San Luis Potosí zu der trockenen Bemerkung "oh, sexy lady !" veranlasst. Und nicht zuletzt die "Damas Potosina" mit toupierten Haaren, eleganter spanischer Kleidung, Goldschmuck und einem falschen Grinsen auf dem Gesicht. Eine davon zeigt eine frappierende Aehnlichkeit mit Cruella De Ville, der bösen Hexe aus dem Disney Film "101 Dalmatiner".



Warum sind wir überhaupt hier, werdet Ihr Euch fragen !?



Um diese Frage zu beantworten, müssen wir in der Zeit zurückgehen. Um genau zu sein, in den Februar 2001. Zu jener Zeit waren wir unterwegs in den mexikanischen Bundesstaaten Sinaloa und Durango. Eines Tages, wir waren gerade daran, neben der Strasse, an der wir PocoLoco geparkt hatten, durchs Unterholz zu kriechen, um nach unseren Pflanzen zu fahnden, hält ein Fahrzeug mit amerikanischen Nummernschildern an und ein Ehepaar fragt uns nach einer speziellen Pflanze, ob wir die eventuell gesehen hätten. Dieses zufällige Treffen war der Beginn einer netten Freundschaft, die uns heute mit Betty und Walter A. Fitz Maurice, einfach genannt "Fitz", verbindet. Ihrer Einladung nach San Luis Potosí, ihrer Wahlheimat, sind wir gefolgt. Und gleich für ein paar Wochen regelrecht steckengeblieben, da es uns sehr gut gefällt und wir auch gut harmonieren.



Fitz, der in Kreisen der Kakteenliebhaber (Fachrichtung Mammillaria, Spezialität Stylothelae) nicht unbekannt ist, nimmt uns in seinem Auto immer wieder mit ins Feld, und zeigt uns interessante Pflanzen rund um San Luis Potosí und bis hinein nach Guanajuato. Betty und er sind mit ihrer reichen Felderfahrung Kenner ihrer Materie und wir freuen uns immer wieder, etwas in einem Bereich dazuzulernen, für den wir uns zwar interessieren, von dem wir aber sichtlich keinerlei Ahnung haben. Mit über 80 veröffentlichten Artikeln in einschlägigen Fachzeitschriften und ihren Kontakten zu allen lebenden Botanikern von Rang und Namen, die sich mit "ihren" Pflanzen beschäftigen, sind sie "alte Hasen". Doch auch sie können sichtlich von unseren Kenntnissen profitieren und so ist es ein kurzweiliges Geben und Nehmen, was unserem Aufenthalt einen angenehmen Anstrich gibt. Da muss der etwas sieche Computer wieder auf Vordermann gebracht werden, es werden Rezepte ausprobiert und es wird geschlemmt. Nicht zuletzt hilft uns auch der dauernd vorhandene Internet-Anschluss, unsere diversen Webseiten nachzuführen und mit unseren Freunden weltweit in Kontakt zu bleiben.



Das Klima in San Luis Potosí kann kurz umschrieben werden mit dem Wort "mediterran". Angenehme Winter, die sich für Europäer sowieso eher wie ewiger Frühling anfühlen, und auch im Sommer steigen die Temperaturen nie ins Unerträgliche, weil die Stadt auf dem "Altiplano" liegt, auf ca. 1800m Höhe. Trotz der knapp 1 Mio. Einwohner fühlt sich die Stadt gemütlich und eher provinziell an. Viele grüne Parks und schattige Plätze ermuntern einem zum sitzen und ausruhen. Unzählige Kirchen und alte Klöster begeistern Architektur-Fans. Wer etwas mehr Leben will, schlendert nach der Siesta am besten durch die drei aneinandergehängten Märkte, wo es alles zu kaufen gibt, was man sich nur denken kann. Die Stände sind etwas gruppiert, Naturmedizingeschäfte scharen sich in einer Ecke, Chile-Verkäufer mit ihren Bergen von verschiedenen Chiles sind in der Mitte des Marktes zu finden. Für das Gemüse und die Früchte muss man sich das beste Angebot zuerst suchen - besonders wenn man so helle Haut und blaue Augen hat wie wir ! Aber auch Plastikspielzeug, Kleider, Schuhe, billige raubkopierte CD's und Kassetten, bunte Einkaufstaschen, mexikanische Souvenirs, Käse und Schmalz, ja sogar grosse Ratten und Kaninchen, die eine Delikatesse darstellen, kann man hier finden.



Auf den Strassen gibt es Sektionen, die für die Schuhputzer reserviert sind. Auf einem kleinen "Thron" sitzt der Kunde, liest Zeitung oder diskutiert mit dem Nachbarkunden über Gott und die Welt, während seine Cowboystiefel auf Hochglanz poliert werden. Gegenüber reihen sich kleine Einzimmergeschäfte aneinander, in denen Barbiere und Coiffeure ihrem Handwerk nachgehen. An einer Kreuzung haben sich Männer mit ihren noch handbetriebenen Nähmaschinen installiert, wo man sich seine Schuhe flicken lassen kann. Und in einer kühlen Arkade gibt es einige Tische und Stühle, an denen man sich, so man des Schreibens unkundig ist, seine Briefe oder Dokumente tippen lassen kann.



Wenn wir dann ganz erschöpft von dem vielen Sight-Seeing nach "Hause" kommen, können wir die wunderbar kühlen Räume und den schönen Garten des Fitz Maurice'schen Hauses geniessen. Um die ganze Sache noch angenehmer zu machen, wohnt man hier standesgerecht und hat Hauspersonal, das einem lästige Arbeiten abnimmt. Kochen macht so besonders Spass, weil man die Sauordnung nicht selber aufräumen und abwaschen muss. Das Essen wird pünktlich im Esszimmer serviert und wenn wir noch lange hierbleiben, müssen wir am Ende aus dem Haus gerollt werden. Sogar unsere teils schon etwas löchrigen T-Shirts und Jeans für die Pflanzensuche zwischen den vielen Dornen strahlen wieder so sauber, wie sie nie gewesen sind. Gebügelt (!) werden sie uns aufs Zimmer gebracht. Glücklicherweise ist unser PocoLoco so klein, da schaffen wir es gerade noch, die nötigsten Handgriffe selber zu machen und uns abends die Drinks selber zu servieren. An so einen Urlaub vom fast fünfjährigen "Urlaub" kann man sich erstaunlich schnell gewöhnen...



März 2002



Julia Etter & Martin Kristen