travelog 35

Auf fast vergessenen Pfaden in Sonora
Eigentlich habe ich mir unter "Sonora" immer ein flaches, wüstenhaftes Land vorgestellt. Heiss, trocken, staubig. Nur von Gebüsch bewachsen, das kratzt oder einen mit unendlich sinnig angelegten Dornen, die nicht nur in eine Richtung zeigen, am Weiterkommen im Buschland hindert.
Weit gefehlt !
Der mexikanische Bundesstaat Sonora hat viele landschaftliche Facetten. Im Nordwesten, angrenzend an den US-Bundesstaat Arizona eine ausgedehnte vulkanische Kraterlandschaft, sehr spärlich bewachsen (sehr kontrastreich mit vielen strahlend gelben Chollas - Opuntia bigelovii - auf schwarzen Sandflächen) - die Sierra Pinacate. Eine Kette von Küstengebirgen zum Golf von Kalifornien (Sea of Cortez) hin, die in früheren Erdzeiten einmal scheinbar vorgelagerte Inseln gewesen sein sollen. Hier wohnen noch die wenigen Überlebenden der Seri Indiander. Dann ein heisser, trockener und staubiger Streifen Land, der sich von der US Grenze bis an die Grenze zum Bundesstaat Sinaloa hinzieht und erst im letzten Teil dank des Wassers aus der Sierra sehr grün und fruchtbar ist. Und letztendlich die Sierra Madre Occidental, die den ganzen Ostteil von Sonora bis zur Grenze zu Chihuahua hin einnimmt. Ein gigantisches Bergland mit schroffen Klippen, hohen, schier unbegehbaren Hängen und Gipfeln.
Für die Suche nach "unseren" Pflanzen führen wir zwei Bücher mit. Howard S. Gentry's "Agaves of Continental North America" und seine frühere Abhandlung über Sonoras Agaven "The Agave Family in Sonora".
Schon in den ersten Tagen unserer Suche stellen wir fest, dass sich in den letzten 50 Jahren (seit dem Erscheinen von Gentry's erster Publikation) verkehrstechnisch einiges geändert hat. Wir versuchen, in die Sierra del Viejo südlich von Caborca zu kommen, fahren die aktuelle Piste und landen nicht dort, wo wir hinwollen. Die Piste führt westlich an der Sierra vorbei statt östlich. Nach dreitägiger Herumkurverei und einer vollen Umrundung der Sierra, rund 200 km auf schlechten Pisten, landen wir dann dort, wo wir eigentlich schon anfangs hinwollten und finden auch tatsächlich die betreffenden Agaven.
Die mexikanischen Strassenkarten sind meist nicht sonderlich hilfreich, denn sie zeigen gewisse Wege entweder gar nicht, dafür aber andere, die noch gar nicht gebaut oder gerade mal eben im Bau sind. Auf die Wegführung, die in den Karten eingezeichnet ist, kann man sich überhaupt nicht verlassen und nur eine Kombination von verschiedenen Karten lässt einen erahnen, mit welchen Überraschungen man zu rechnen hat. So führen wir eine recht detaillierte aktuelle Strassenkarte im Massstab 1:1'000'000 (Serie "Guia Roji" 2000) mit uns, einen Kartenatlas in handlichem A5-Format einer unbekannten mexikanischen Firma (in demselben Massstab) und eine Mexico-Strassenkarte des amerikanischen Automobilclubs AAA. Keine der Karten stimmt mit der Wirklichkeit überein, sie sind aber sehr hilfreich, wenn es ans Heraustüfteln von Ortschaftsnamen und somit für uns wichtigen Pflanzenstandortangaben geht - natürlich unterscheiden sich die Dorfbezeichnungen oft recht massiv von Karte zu Karte.
Die zweite grosse Überraschung erleben wir, als wir von Tonichi in Richtung Bacanora fahren wollen. Wir erfahren von Ansässigen, dass die in Gentry's Büchern eingezeichnete Strasse vor rund 30 Jahren aufgegeben wurde, da bessere Verkehrswege gebaut worden waren (notabene auch mit einer ganz anderen Linienführung). Durch Herumfragen finden wir aber heraus, dass es die alte Piste noch geben soll und alle Leute versichern glaubhaft, dass sie durchgängig befahrbar sei. Auch auf unsere Fragen nach tief hängenden Baumästen, sehr engen Stellen und zu schrägen Pistenteilen hören wir nur beruhigende Antworten. Und so machen wir uns denn auf den Weg, verfahren uns auch prompt, landen auf einem Rancho und erstehen uns dort einen Frischkäse (5 Kilogramm für rund 12 US Dollar - eine kleinere Packungsgrösse gibt es nicht !).
Bis zum Rancho Tecolote - wo Julia von der Senora lernt, wie man "Sobaqueras" (hauchdünne, riesige Tortillas, die nur in Sonora gemacht werden) mit den Händen zubereitet - wo wir nicht wegfahren dürfen, ohne ein Glas von "Chiltepin"-Salsa (Chiltepin gilt als der schärfste Chili Mexicos - wilder Mini-Chili, heimisch nur in Sonora) mitzunehmen. Danach wird der Weg unberechenbar. Trotz Versicherungen der Rancheros, dass mit keinen tief hängenden Baumästen zu rechnen sei, sind wir für die nächsten 20 Kilometer damit beschäftigt, uns einen Weg durchs Gebüsch zu sägen. Hier ein Baumast ab, dort ein Teil eines schräg in den Weg hineinragenden Busches, der nicht sonderlich biegsam ist. Die Piste ist total überwachsen und es kratzt ganz beträchtlich an unserem Häuschen. Dann wird sie zusätzlich noch eng und windet sich steile Berghänge hinauf und hinab. Man kann sich unsere Begeisterung vorstellen. Dann wiederum liegt ein rund 2 Tonnen schwerer Fels mitten auf dem Weg, gerade noch soviel Platz lassend, dass zwar ein Pick-Up mit etwas Kratzer am Lack davonkommt, für uns reicht es jedoch nicht. Da bleibt nichts anderes übrig, als in einer Pistenkurve umzudrehen und den Fels mit Bergegurt aus dem Weg zu ziehen. Da sind wir schon wieder einmal recht dankbar, dass wir ein starkes Fahrzeug haben. Letztendlich schaffen wir es doch und haben eine weitere Lektion gelernt. Und als Trost: Wir haben auch einige seltene Pflanzen (u.a. Yucca declinata und Sedum alamosanum) auf dieser speziellen "Tour" gefunden...
Gleich darauf erleben wir die nächste Überraschung. Wir wollen von Sahuaripa nach Mazatan - natürlich nicht auf der Teerstrasse, sondern nördlich an der Presa Plutarco Elias Calles über Pisten, die es anscheinend laut einer unserer Karten geben soll und die anno 1956 auch Gentry befahren hat. Nachdem wir wieder Rancheros ausgefragt hatten, geht es in Richtung Nordenwesten auf einer Piste, die extrem breit und sehr neu aussieht. Die Strecke ist stark befahren, es ist Sonntag und die Bewohner von Sahuaripa scheinen für ein Picknick an den Stausee zu fahren. Weit gefehlt ! Plötzlich endet die Strasse und wir stehen mit all den anderen Autos vor einem Abgrund. Ende der Fahnenstange, hier wird noch fleissig an einer Brücke über den Rio Yaqui gebastelt. Wir nehmen die Sache gelassen, wundern uns etwas, weshalb uns die Leute, die wir nach dem Weg gefragt hatten, nicht gewarnt haben. Immerhin können wir so das Sonntagsnachmittagsvergnügen der Sahuaripaner miterleben: Kleine Spritzfahrt mit der ganzen Familie ans Ende der Piste, Stühle ausgepackt, Feuerchen entzündet und Tacos gebrutzelt.
Der zweite Versuch scheint von mehr Erfolg gekrönt. Wieder erkundigen wir uns in Sahuaripa und werden diesmal in nördliche Richtung geschickt. Wir landen auf einer Piste, die immer schlechter und enger wird. Schliesslich endet unser Ausflug an einer kleinen Fähre über den Rio Yaqui, dessen braunes Wasser träge dahinzieht. Wir unterhalten uns (über den rund 30 Meter breiten Fluss schreiend) mit dem Fährmann, der uns vom Übersetzen abrät. Nicht nur, weil er Angst um seine Fähre hat (unser Fahrzeug erscheint ihm etwas gross und schwer), sondern auch, weil nach seinen Angaben die weiterführende Piste in Richtung Badesi gerade einmal für kleinere Pick-Ups so schlecht und recht befahrbar sei. Wir drehen um, aber nicht ohne einen kleinen Abstecher in die nahegelegenen Berge auf einer abenteuerlich in den Hang gekratzten Piste zu unternehmen und doch tatsächlich eine unserer lange gesuchten Pflanzen (Agave ocahui var. longifolia) zu finden.
Damit des Mass auch wirklich voll wird, geht es mit den Überraschungen tags darauf auch gleich weiter. So wollen wir von Matape in Richtung Batuc fahren und wundern uns, dass die Strasse (trotzdem es alle Karten ganz anders zeigen) plötzlich nach Norden schwenkt, statt weiter in Richtung Nordosten zu führen. Da wir mittlerweile schon dazugelernt haben, kommt uns der richtige Gedanke: wieder mal eine neue Streckenführung ! Also gehen wir auf die Suche nach dem "camino viejo" und finden den auch tatsächlich. Zwar gar nicht mehr unterhalten, doch von lokalen Rancheros immer noch tagtäglich benützt. Wir erfahren, dass in den 60er-Jahren ein Stausee gebaut wurde (besagte weiter oben erwähnte Presa), der Teile der alten Strasse nach Sahuaripa (und damit auch drei ganze Ortschaften) unter Wasser verschwinden hat lassen und dass es keine Nordverbindung nach Sahuaripa mehr gebe.
Im Pistengewirr landen wir schliesslich auf dem Rancho "El Puerto", wo uns die Ranchersleute mit einer Gastfreundschaft verblüffen, die uns ein richtig schlechtes Gewissen macht. Doch davon wollen wir Euch demnächst mehr erzählen.
Januar 2001
Julia Etter & Martin Kristen
|