travelog 27






Allein auf weiter Flur



Nördlich von Guerrero Negro, beim Fischerdorf Santa Rosalillita (ein mexikanischer Zungenbrecher !), beginnt eine der am wenigsten befahrenen Strecken durch einsamste Gegenden der Baja California. Abgesehen von einigen Schlenkern durchs Landesinnere führt sie alles der Pazifikküste entlang, bis man in Puerto Catarina landet, wo es keine Verbindung mehr nach San Carlos gibt - "pura sierra", was soviel heisst wie "nur noch Berge", wird uns von den ortskundigen Militärs erklärt.



In Guerrero Negro füllen wir deshalb unsere Kühlschränke bis unter den Deckel auf. Auch genügend Wasser und Diesel haben wir dabei. Wenn wir jetzt unterwegs noch bei einigen Fischercamps frischen Fisch bekommen, sollte unser Speisezettel eigentlich sehr abwechslungsreich sein. Den ersten Abschnitt der Strecke zwischen El Tomatal und Santa Rosalillita sind wir im Dezember 1999 schon gefahren, diese schlechte Piste für einige wunderschöne und einsame Strände (man trifft höchstens einen Surfer oder zwei) müssen wir uns jetzt im Mai 2000 nicht nochmals antun. Zwischen Santa Rosalillita und El Marrón kennen wir das Wellblech auch schon vom Dezember her. In der Hoffnung, im aus vier baufälligen Hütten bestehenden Fischercamp El Marrón nochmals frische Langusten zu bekommen, machen wir den kleinen Abstecher zu den hübschen Sanddünen und den vielen Muscheln. Langusten sind leider keine zu bekommen, dafür ergattern wir eine riesige Seezunge, die ich mit Mühe und Not auseinandernehme. Für uns bleiben Filets und Ceviche, für den Coyoten und ein Rabenpärchen Haut und Knochen. Von unserem Logenplatz aus haben wir jeden Abend einen perfekten Sonnenuntergang direkt vor unseren Fenstern. Der lange Sandstrand wird von hellgrauen Dünen begrenzt, wo man unzählige Pismo-Muscheln, Sand Dollars und sogar eine angeschwemmte riesige Krabbe finden kann. Hinter dem Strand türmen sich rote Felsbrocken zu Bergen auf, dazwischen wachsen die Pflanzen wie in einem kleinen Gärtchen: Agave shawii ssp. goldmaniana, Dudleya albiflora, Mammillaria maritima (eine Pflanze sogar noch in Blüte), Mammillaria blossfeldiana, Echinocereus maritimus, Yucca valida und vieles mehr.



Das Fischercamp wird nur zeitweise bewohnt, die Hütten sind aus Wellblech, Karton und Autowrackteilen zusammengebastelt. Mit einem Auto kann man das Camp nur bei Ebbe erreichen und bei heftigen Stürmen sind die Hütten völlig von der Aussenwelt abgeschnitten. Der Tagesfang wird einfach auf die Ladefläche eines schrottreifen Pickup geworfen und ohne Kühlung (der Fahrtwind wird schon helfen...) nach Santa Rosalillita gefahren. Dort steht dann ein richtiger Kühlwagen bereit, der den Fisch nach Guerrero Negro weitertransportiert, wo er dann als "fangfrisch" angeboten wird.



Die weitere Strecke ist noch für einige Kilometer ganz in Ordnung, d.h. wir rattern über das übliche Wellblech. Danach wird die Piste schmal und man denkt oft, dass man sich in der Abzweigung geirrt hat. Die Piste führt uns durch enge Arroyos, über kleine Pässe, durch trockene Flussbetten, den Pazifik immer in Sichtweite. Die Fischcamps, die wir antreffen, sind alle verlassen. Die einzelnen Strände wunderschön und einsam, weil die Anfahrt zu mühsam und für die meisten Fahrzeuge auch nicht zu machen ist. Ein grosses Problem für viele Autos sind die langen Abschnitte, wo man durch tiefen puderfeinen Staub (Silt) fahren muss. Bei Regen verfestigt sich dieser Staub zu einem undurchfahrbaren Schlick, die Piste wird zu einem einzigen Schlammloch. Wir haben meistens die Auswahl zwischen mehreren Fahrspuren, von denen jede gleich schlecht und staubig ist. Wenn der Wind auch noch aus der richtigen Richtung kommt, überholt uns unsere eigene dicke Staubwolke und wir können gar nichts mehr sehen. Macht nichts, hier ist sowieso keine Menschenseele unterwegs ! Ab und zu führt eine Baja-Rallye durch diese Gebiet. Damit die leichten Rallye-Fahrzeuge nicht im tiefen Staub steckenbleiben, laden sie sich Säcke mit grossen Kieselsteinen als Gewicht auf. Diese Plastiksäcke und deren nicht mehr benötigter Inhalt finden sich somit überall entlang der Strecke verteilt.



Wir haben die ganze Strecke unter die Räder genommen, um eine spezielle, neu beschriebene Dudleya (Dudleya attenuata ssp. australis) zu finden. Und natürlich auch, weil wir magisch angezogen werden von solch abgelegenen Gebieten. Wahrscheinlich weil wir eine genaue GPS-Position des Standortes haben, finden wir die Pflanze schon viel weiter südlich völlig problemlos. Es sind kleine, fast bodendeckende Polster von Pflanzen mit grauen, hellgrünen bis violetten Würstchen-Blättern. Einige davon blühen sogar schon.



Die zweite Überraschung ist Dudleya pulverulenta ssp. pulverulenta, die wir so weit südlich auf keinen Fall vermutet hätten. Die grossen, weiss bemehlten Rosetten verleiten uns, zig Filme zu verschiessen, weil einfach eine Pflanze schöner als die andere ist. Und der ganzen Küste entlang treffen wir Dudleya albiflora an, die in Rosettenform und Blütenfarbe von Standort zu Standort variiert. Ein weiteres Highlight kleine Mammillarien (Mammillaria blossfeldiana) mit einem Durchmesser von 2-4cm, die kaum aus dem trockenen Boden herausschauen. Normalerweise würde man die stachligen Pflänzchen einfach übersehen, doch wir sind zur richtigen Zeit unterwegs und erleben sie in voller Blüte.



Aus dem fahrenden Auto heraus (bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5-10kmh auch nicht verwunderlich) sehen wir die rosaroten Punkte aus dem braunroten Gestein leuchten. Die erste Pflanze mit einer Blüte wird ausgiebig fotografiert. Wir kriechen auf dem Boden herum, um ja den besten Winkel zu erwischen. Nach einem ganzen verknipsten Film, beschliessen wir, nur noch Pflanzen mit zwei Blüten aufzunehmen. Diese Limite wird bald auf drei Blüten erhöht, was später noch durch mehrere blühende Pflanzen nebeneinander geschlagen wird.



Eines Morgens, als wir es schon nicht mehr gewohnt sind, im Rückspiegel nach einem anderen Auto Ausschau zu halten, tauchen plötzlich Staubwolken hinter uns auf. Bald fahren zwei khakigrüne Hummer (hässliche Vierradmobile, die in den USA einen Boom bei den Reichen & Schönen erleben, wo die Fahrzeuge aber sicherlich nie eine Piste aus der Nähe zu sehen bekommen) hinter uns und bedeuten uns, anzuhalten. Von der Transpeninsular sind wir uns die häufigen Militärkontrollen ja schon gewöhnt, doch hier im Niemandsland erstaunt es uns doch etwas, auf die Federales zu treffen. Die ganze Mannschaft der zwei Hummer umstellt unser Fahrzeug, die Maschinengewehre im Anschlag. Dieses machistische Getue erzeugt jedes Mal ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend, obwohl wir ein ganz reines Gewissen haben (sprich' keine Drogen (ausser natürlich Allohol...) und keine Waffen). Der Chef der ganzen Truppe, alles gelangweilte Jungs um die Zwanzig, besteigt unser Häuschen und sieht sich im Inneren etwas um. Wir haben Verständnis dafür, schliesslich trifft man so ein Mobil nicht gerade an jeder Ecke an. Nachdem wir der ganzen Mannschaft einen Film für ihren Knipsomaten spendiert haben, bricht das Eis und die Jungs werden gesprächig. Seit einer Woche sind wir die ersten Menschen, die sie hier antreffen - uns geht's nicht anders ! Schliesslich erkundigen sie sich, was wir denn von Klapperschlangen hielten. Als wir positiv reagieren, zaubern sie aus einem der Hummer eine Plastiktüte mit drei lebenden Klapperschlangen hervor. Ein Sonnyboy mit schwarzer Sonnenbrille legt sie sich um den Hals und küsst die Schlangen auf den Kopf. Das alles ist mir dann doch etwas zuviel, doch nachdem die Jungs mir versichert haben, dass sie den Schlangen das Gift extrahiert haben, fasse ich Mut und nehme zwei davon in die Hand.



Sie winden und schlängeln sich, fauchen mich an, doch keine macht auch nur Anstalten, mich zu beissen. Wahrscheinlich liegt das aber eher daran, dass die armen Viecher völlig verängstigt sind ! Unser Vorschlag, die ganze Sache zu fotografieren, findet grossen Zuspruch. Sofort posieren zwei Sonnyboys mit den Schlangen und hinterlassen uns auch gleich eine Adresse, wo wir die Bilder hinschicken können. Ob sie ihr Versprechen, die Schlangen wieder freizulassen, tatsächlich auch einhalten, wissen wir leider nicht. Vielleicht sind sie später auch auf dem Grill gelandet... Und weil wir gerade so schön am Fotografieren sind, posiert die Hälfte der ganzen Bande auch gleich noch vor unserem PocoLoco, natürlich mit den Schusswaffen im Anschlag. Abschliessend zeigen sie uns eine kleine Piste, die uns direkt wieder an den Pazifik und zu einem anscheinend bewohnten Fischercamp (wir finden dort später keine Menschenseele) bringen soll. Die empfohlene Piste stellt sich als eher schlecht heraus, doch zum Umdrehen ist es zu spät, da sie viel zu schmal und abschüssig ist - wir fahren weiter, ganz nach dem mexikanischen Motto: "Fé en Dios y adelante !" (=vertrau' auf Gott und vorwärts !).



Nördlich des verlassenen Fischcamps San José de la Piedra befindet sich der GPS-Standort, den wir für die Dudleya attenuata ssp. australis haben. Nicht dass wir die Pflanzen jetzt nochmals dokumentieren müssen, doch wir sind ganz einfach gespannt, ob wir diese Strecke schaffen. Sie ist nämlich in keiner Karte als richtige Piste eingezeichnet. Auf unserem relativ genauen Baja-Atlas wird sie als gepunktete Linie angegeben, was soviel heisst wie "Kuhpfad". Reifenspuren sind zu sehen, also kann's gar nicht so schlimm sein ! Nach einem trockenen Flussbett kämpfen wir uns den ersten Hügel hinauf. Ohne Vierradantrieb und hohe Bodenfreiheit hätten wir hier keine Chance. Der Pfad ist an einigen Stellen extrem eng, teilweise beunruhigend schief, teilweise ausgewaschen und mit recht grossen Steinbrocken gepflastert. Naja, dann eben in der Untersetzung (ganz langsame Kriechgänge) bergan gekrochen. Oben angekommen führt die Piste lange auf einer Mesa (=Hochebene) entlang. Wir lernen es hier zu schätzen, auf Hochebenen zu fahren, weil die Piste da nämlich nie schlecht sein kann. Nahe am Pazifik gibt es zu viele Auswaschungen und man läuft Gefahr, zu schwer für die bröckligen Klippen zu sein. Auf- und Abfahrten von Hochebenen sind nie toll, weil der erste Regen alles kaputt macht, was die Militärs, die einzigen, die hier auf der Suche nach Waffen und Drogen regelmässig durchfahren, geflickt haben.



Und die Arroyos sind noch schlimmer, weil es da immer eng ist und man keinem Felsen und keiner dornigen Pflanze ausweichen kann - doch das werden wir ja alles noch erleben ! Das Pistengewirr ist verwirrend und so halten wir uns immer an die meistbefahrene Strecke. Besonders eine Abfahrt in einen engen Arroyo bleibt uns gut in Erinnerung. Es ist zuerst furchtbar steil, doch auf den Fotos sieht das wie üblich ganz banal aus. Danach schlängelt sich der Pfad in einem kleinen Arroyo bis an den Pazifik. Martin manövriert den Unimog langsam über grosse Felsbrocken, mal links einer, mal rechts einer, dann wiederum ist das halbe Flussbett weggewaschen und es wird beängstigend schief (und das heisst nun wirklich schief, kein Wunder, ist die Piste auf keiner Karte eingezeichnet), während ich vorauslaufe und die Enddornen der Agaven abschneide, damit sie uns nicht die Reifen aufschlitzen (was wir letztes Jahr auf der Baja ja schon gehabt haben). Endlich am Pazifik, landen wir auf einem perfekten Lagerplatz etwas oberhalb des tosenden Meeres. Hinter uns türmen sich farbige Klippen, nicht umsonst heisst der Ort "Morros Colorados" (=farbige Hügel). Danach kann uns nicht mehr viel schocken, obwohl wir noch einige Arroyos und Auf- und Abfahrten von Mesas zu bewältigen haben.



In Puerto Canoas haben wir vor genau einem Jahr schon einmal campiert. "Unser" Lagerplatz ist diesmal besetzt mit einem zerfallenden Wohnwagenanhänger (die Mexikaner kennen gar nichts, wenn es darum geht, mit dem Auto irgendwohin zu fahren), Autowracks, einem Toilettenhäuschen und einer Hütte zusammengezimmert aus Wellblech und Karton. Vom Pazifik her weht ein sturmartiger Wind, der andauernd Staub und Sand aufwirbelt. Das alles scheint die einzige Frau am Platz nicht zu stören. Völlig unbeeindruckt hängt sie die sauber gewaschene Wäsche auf die Leine, wo sie sofort zugestaubt wird. Die Fischer schauen uns eher feindselig an, erst als sie merken, dass wir auf keinen Fall hier bleiben wollen, werden sie etwas freundlicher. Der Ort ist nicht wiederzuerkennen ! Die ganzen niedrigen Büschchen und Agaven hängen voller Toilettenpapier, überall flattern Plastiktüten im Wind, der Boden ist übersät mit Bierflaschen und Coladosen. Einzig die Dudleyen und Ferocactus fordii mit seinen dunkelvioletten Blüten, die wir letztes Jahr fotografiert hatten, stehen noch am gleichen Ort und sind genauso schön wie letztes Mal auch. Unter diesen Umständen hält uns hier nicht viel und wir finden schnell einige Kilometer in Richtung des Landesinneren einen anderen schönen Lagerplatz zwischen Agaven. Abends erkunden wir die Umgebung unseres Lagerplatzes und entdecken wiederum blühende Dudleyen, immer schön versteckt in kleinen Sträuchern, die zwei recht unterschiedliche Arten von Blütenständen (mit roten und rosa Blüten) haben. Auch abends geht uns die Arbeit also nicht aus.



Zwischen Puerto Canoas und Puerto Catarina gibt es eine kleine Verbindung. Es ist wieder eine der Pisten, bei der man denkt, man hat die falsche Abzweigung erwischt. Sie ist schmal und führt durch hohes Gebüsch, wo wir plötzlich auf eine gelb blühende Dudleya-Art stossen, die vom Aussehen her als Dudleya lanceolata (= blüht normalerweise rot) bestimmt werden kann, jedoch in diesen Gegenden gar nicht vorkommen soll. Sollen sich die Fachleute streiten. Wir dokumentieren die Pflanzen sorgfältig. Bei den Hunderten, angenehmen, kleinen Ekelbiestern von Fliegen ein nicht ganz reibungsloses Unterfangen, die Pflanzen zu beschatten und stillzuhalten, während einem die Viecher unter die Hosenbeine kriechen oder versuchen, Augen, Ohren oder Nasenlöcher näher zu erkunden. Bald flüchten wir daher in unser Fahrzeug und landen nach einigen Kilometern in Puerto Catarina. Auch dieses Fischercamp sieht sehr baufällig aus und der Wind zerrt an allen Hütten. Kinder spielen im Windschatten der Behausungen, kläffende Hunde begrüssen uns. Frischen Fisch bekommen wir auch hier nicht, der Wind ist zu stark und die Wellen zu hoch. Vielleicht aber "mañana" !



Von hier aus bleibt uns nur noch die Strecke ins Landesinnere, wo wir nach 320 Kilometern Piste wieder auf die Transpeninsular treffen. Es muss hier vor kurzem geregnet haben, denn erstens sind die kleinen Fliegen zu Millionen unterwegs und zweitens ist die Landschaft richtig grün. Yuccas sind geschmückt mit weissen kerzenartigen Blütenständen. Kleine Sonnenblumenbüsche sind übersät mit gelben Blüten. Der Boden ist bedeckt mit rosaroten kleinen Blümchen. Überall spriesst und grünt es. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit entdecken wir gleich neben der Piste einen Stenocereus gummosus mit einer einzigen offenen Blüte. Obwohl uns die fliegenden Biester aufs Übelste plagen, packen wir die ganze Ausrüstung aus, um diese wunderschöne weisse, intensiv nach Honig duftende Blüte zu fotografieren. Den Rest der Strecke kennen wir schon, doch es bleibt uns leider keine Alternative. Entlang der Küste gibt es keine Verbindung, und wenn, dann ist sie nur auf einem Maulesel zu bewältigen !



Juni 2000



Julia Etter & Martin Kristen