travelog 117

Agave manantlanicola
Die Formel geht ungefähr so: Agave attenuata x Agave chazaroi = Agave manantlanicola. Die Rede ist von einer erst kürzlich beschriebenen Agavenart in der Sierra de Manantlán, wie es auch aus dem Namen der Pflanze hervorgeht. Die Sierra Manantlán ist ein 140'000 Hektaren grosses geschütztes Gebiet, die Reserva de la Biosfera Sierra de Manantlán, das 1987 gegründet wurde. Die Gründung der Biosphäre geht darauf zurück, dass in dem Gebiet "teocintle" (Zea diploperennis) entdeckt wurde. Der uns allen geläufige Mais heisst auf lateinisch Zea mays und ist das einzige kultivierte "Gras" aus der Familie. Das geschützte Gebiet reicht von Autlán de Navarro (Jalisco) im Westen bis fast nach Colima, mit Höhendifferenzen von 400 bis 2'860 m. Uebrigens ist Autlán de Navarro der Geburtsort von Carlos Augusto Alves Santana, dem Gründer und Gitarrist der berühmten Rockgruppe Santana. Der Koautor der Beschreibung von Agave manantlanicola heisst ebenfalls Santana, was in Autlán ein typischer Nachname ist. Auf Google Earth hatten wir uns einmal die GPS Positionen, die in der Erstbeschreibung von Agave manantlanicola angegeben sind, eingezeichnet und mussten feststellen, dass es in unmittelbarer Nähe keine Strassen oder Pisten zu sehen gab. Also setzten wir uns mit Ramón Cuevas, einem der Autoren, in Kontakt. Umgehend kam eine positive Antwort und ein Termin für unseren Besuch wurde vereinbart. Eigentlich hätte auch noch Antonio Vazquez, einer der Autoren von Agave temacapulinensis, und einer seiner Studenten mitkommen sollen, doch im letzten Moment musste Antonio leider wegen Reparaturarbeiten an seinem Auto absagen.
Von Guadalajara, Jalisco, fuhren wir über Cocula nach Juchitlan, wo wir Graptopetalum superbum wieder einmal einen Besuch abstatteten. Ueber ein abgeerntetes Maisfeld stolperten wir an den Rand der kleinen Barranca und rochen schon bald den Fluss, der die ganzen Abwässer von Juchitlan zu Tale führt. Es war schön heiss und windstill, was den Gestank noch unerträglicher machte. Dafür war das Graptopetalum umso schöner. Die hellviolett gefärbten Rosetten sahen immer noch gut genährt aus und bevölkerten die senkrechte Wand zusammen mit Mammillaria scrippsiana und verschiedenen Tillandsien. Weiter ging es über Union de Tula bis nach Autlan de Navarro, wo wir im Stadtzentrum ein kleines Hotel fanden. Danach suchten wir Ramón an der Universität, um uns für den nächsten Tag zu verabreden. Ramón machte uns mit seinem Freund Oscar bekannt, der für das morgige Picknick zuständig sein würde. Danach gab er uns eine kurze Tour durch die botanische Abteilung der Universität und durch das gut klimatisierte Herbarium, wo die zu bearbeitenden Belege bis zur Decke gestapelt waren. Wir verabredeten uns für früh am Morgen, denn wir würden ungefähr vier Stunden auf schlechten Pisten bis zum Standort fahren und danach natürlich auch wieder vier Stunden zurück.
Es war etwas schwierig am Abend ein nettes Restaurant im Stadtzentrum zu finden und so setzten wir uns schliesslich mangels Alternativen in eines der Hamburger-Lokale, um in Ruhe ein kühles Bier zu trinken. Dazu gab es einen riesigen Hamburger mit allem Drum und Dran, Pommes inklusive, der gar nicht so schlecht schmeckte.
Am nächsten Morgen holten wir in der Dunkelheit beim OXXO, einem Tankstellenshop, der 24 Stunden offen hat, heissen Kaffee. Danach standen wir pünktlich um sieben Uhr vor dem Universitätsgebäude. Am gleichen Ort warteten schon einige Studenten. Ramón erschien pünktlich, doch von seinem Freund keine Spur. Es trudelten immer mehr Studenten ein, die auf ihren Professor warteten. Oscar erschien schliesslich mit verschiedenen Tüten und einer kleinen Kühltruhe. Nun ging die Diskussion los, wie die ungefähr 12 Studenten auf dem kleinen Pickup bis auf den Berg hinaufkommen würden. Schliesslich erschien der Professor, der mit seinem langen Bart und der rauchenden Pfeife im Mund (es war mittlerweile 7:30 morgens) prompt für einen Schweizer Alpöhi hätte durchgehen können. Er war offensichtlicherweise berühmt-berüchtigt für seine chaotische Organisation und so stieg die Hälfte der Studenten hinten auf unseren Pickup und es ging endlich los. Nach einigen Kilometern auf einer geteerten Strasse fing die Piste an. Es ging immer nur bergauf. In einer Kurve verabschiedeten sich die Studenten und wir erreichten bald die wissenschaftliche Station La Joya, wo wir das erste verschlossene Tor passierten. Wir stoppten kurz, um Schlüssel, eine Motorsäge und Schaufeln aufzuladen, im Falle dass die Piste von einem Baum oder einem Erdrutsch versperrt sein sollte. Ramón erzählte uns, dass er im August oben gewesen sei und sie tatsächlich einen Baum zersägen mussten, um weiterfahren zu können. Nun wurde die Piste nass und rutschig und ohne Vierradantrieb wäre mehrere Male hier kein Weiterkommen mehr gewesen. Wir waren froh, dass wir mit Ramón's Pickup unterwegs waren und unser Auto nicht auf diesen Berg hinauf plagen mussten.
Wir fuhren durch einen Märchenwald, in dem jeder Baum mit Tillandsien, Orchideen, Blattkakteen, Peperomia, Farnen und Moos bewachsen war. Einen ersten Stopp legten wir für hellviolett blühende Dahlia tenuicaulis ein, eine baumartige Dahlienart, die vier bis fünf Meter hoch werden kann und in Mexiko heimisch ist. Hier gab es in einer Pfütze in der Fahrspur auch eine sukkulente Pflanze zu fotografieren, nämlich eine Crassula viridis (vormals Tillaea). Dann folgte auch schon das nächste verschlossene Tor. An einer Wegkreuzung gab es Frühstück. Ramón und Oscar hatten frische Brötchen dabei und so belegten wir uns alle selber leckere Sandwiches. Oscars Frau hatte an alles gedacht und lieferte sogar kleine Gläser mit Mayonnaise und Senf und eine Dose mit scharfen Chiles mit. Gestärkt rumpelten wir weiter in die Höhe. Ueberall blühten noch Blumen und alles war erstaunlich grün. Oscar ist ein Förster, der für die lokale Feuerwehr, die in der Brandsaison ganz oben auf verschiedenen Gipfeln der Sierra Manantlán Wachtürme unterhält, arbeitet. Eine Mannschaft lebt zu dieser Zeit in Hütten, um im Notfall gleich zur Stelle zu sein. Oscar ist dafür verantwortlich, die Schneisen zu kontrollieren, die zur Eindämmung der Waldbrände gerodet werden. Oft sind es existierende Pisten oder die Schneisen werden in den Wald geschlagen und fungieren später als primitive Fahrwege. Auf so einen primitiven Fahrweg bogen wir schliesslich ein. Agave manantlanicola wurde nämlich entdeckt, als Oscar auf so einer Piste unterwegs war, weil er Ramón eine Blume zeigen wollte, die er hier oben noch nie gesehen hatte. Gleichzeitig wollte er noch nach einer anderen Brandschutzschneise schauen. Ramón begleitete ihn und an einigen Felsen stiessen die beiden auf eine tote Agave. Am gleichen Tag entdeckten sie eine grosse Population der neuen Agavenart in senkrechten Felswänden.
Mitten im Märchenwald stoppten wir plötzlich an einer fast völlig überwachsenen Piste, die nur zu erkennen war, wenn man sich hier oben auskannte. Von Autlán auf 920 m waren wir in wenigen Stunden 1880 m bis auf 2800 m in die Höhe gefahren. Wir wanderten etwas in die Höhe und auf der anderen Seite wieder hinunter. Die Sicht beschränkte sich im Moment auf graue Nebelwände und so waren wir etwas erstaunt, als wir plötzlich an einem senkrechten Abgrund standen. Hier stand auch schon die erste Agave manantlanicola mit wunderschönen blaugrauen Blättern und einem schwarzen Hornrand. In den Klippen hingen grosse Exemplare, doch es war absolut unmöglich, näher an sie heranzukommen. Alles hier oben war gut genährt, satt und grün. In dicken Moospolstern versteckte sich ein Sedum aff. greggii, das sich mit Tausenden von gelben Blüten schmückte. Wir kletterten herum und ergötzten uns an den wunderschönen Agaven. Immer wieder öffneten sich Sonnenfelder und Fenster in den Nebelschwaden, die Blicke auf Felstürme und -zinnen freigaben. Mit etwas Glück entdeckte Ramón auch eine der hier oben heimischen Echeverien, dem Aussehen nach verwandt mit E. novogaliciana. Leider hatten wir viel zu wenig Zeit, denn wir mussten die vier Stunden, die wir für den Aufstieg gebraucht hatten, auch für den Rückweg einberechnen. Beim Auto stopfte Ramón noch schnell seine Schätze zwischen Zeitungspapier und in die Herbarpresse, dann ging es los. An einer schönen Lichtung mit plätscherndem Bach war es Zeit für ein spätes und schnelles Mittagessen. Es gab einen Thunfischsalat mit Crackern, der allen ausgezeichnet mundete. Nun ging es im Wettrennen gegen die Dunkelheit in halsbrecherischem Tempo den Berg hinunter. Bei La Joya lieferten wir das mitgenommene Werkzeug und die Schlüssel wieder ab. Nebenbei bestaunten wir noch schnell die grosse Vielfalt an blühenden Orchideen, die die Bewohner in verschiedenen Bäumen kultivierten. Im letzten Dämmerlicht ging es weiter steil den Berg hinunter, doch schon bald ereilte uns komplette Dunkelheit und der Untergrund war nicht mehr wirklich gut zu erkennen und auf dem Rücksitz wurden wir immer wieder kräftig durchgeschüttelt. Schliesslich erreichten wir die asphaltierte Strasse und waren gegen neun Uhr nachts auch wieder im Hotel.
Martin stand der Sinn heute nach "etwas Leichtem", wie er sich ausdrückte, als wir an einem Café mit süssem Gebäck vorbeigingen. Nebenan setzten wir uns zuerst für ein kaltes Bier in einen anderen Hamburger-Laden, assen aber nichts. Dann ging es ins Café, wo wir uns je zwei Stückchen Patisserie gönnten. Wie gesagt "etwas Leichtes" und natürlich ein schmackhafter Ausklang eines wunderbaren Tages.
November 2012
Julia Etter & Martin Kristen
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