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Temacapulín



Die Menschen in Temacapulín führten bis 2005 ein ganz normales, ruhiges, von der Landwirtschaft geprägtes Leben. Gegründet wurde die kleine Ortschaft um 1550 von den Spaniern, aber man vermutet, dass die Gegend schon in prähispanischer Zeit und mindestens ab dem 7. Jahrhundert bewohnt war. Doch 2005 wurde alles anders, als beschlossen wurde, bei Temacapulín einen Staudamm zu bauen. Wir hatten von diesen Plänen und den Protesten in der Zeitung gelesen, waren später aber wegen einer Pflanze am Ort interessiert.



Doch zuerst etwas zur Geschichte von Temacapulín und der Presa El Zapotillo, dem drittgrössten Staudammprojekt Mexikos. Temacapulín, von den Einwohnern kurz und liebevoll auch Temaca genannt, hat 480 Einwohner und liegt in der Gemeinde Cañadas de Obregón im Staat Jalisco. Für das Projekt Zapotillo wird der Rio Verde gestaut und drei Ortschaften, Temacapulín, Acasico und Palmarejo, unter Wasser gesetzt. Die ungefähr 1000 Bewohner dieser Dörfer werden in eine Siedlung mit dem blumigen Namen Talicoyunque umgesiedelt - doch zurzeit sieht es nicht so aus, als ob sich diese Menschen umsiedeln lassen wollen. Talicoyunque ist anscheinend ein trockener, steiniger Ort ohne Wasser und überhaupt nicht für die Landwirtschaft geeignet. 70% der Gebäude in Temacapulín gehören zum "Patrimonio cultural de los Mexicanos", d.h. sie sind schützenswert. Deshalb müssen die historischen Gebäude wie zum Beispiel die 250 Jahre alte Kirche, verschiedene Häuser im Kolonialstil, die Portalen, der Hauptplatz und sogar ein Friedhof Stein für Stein umgesiedelt werden. Die ursprüngliche Staumauer war auf eine Höhe von 80 Metern geplant, doch später wurde diese Höhe auf 105 m erhöht, um mehr Wasser speichern zu können. Die Erhöhung der Staumauer würde zur Ueberflutung der drei Dörfer führen, was vor Gericht bekämpft wird.



Kritiker bemängeln, dass das Wasser des Staudammes zu einem Grossteil der Stadt Leon im Staat Guanajuato und der dortigen Agroindustrie, den Schuhfabriken und grossen Farmen zugute kommen wird, und dass nur ein kleiner Teil des Wassers nach Guadalajara und in die Altos de Jalisco geführt werden wird. Die Lebenszeit des Staudammes wird auf nur 25 Jahre berechnet. Ein weiteres Argument der Staudamm-Gegner ist, dass in Guadalajara und Leon 40% des Trinkwassers durch Lecks in den Verteilungsleitungen verloren geht. Es wäre demnach wichtiger, zuerst in die Infrastruktur der vorhandenen städtischen Wasserversorgung zu investieren und kleine, lokale Staudämme und die Nutzung von Regenwasser zu unterstützen. Die Fronten sind verhärtet, was verschiedene Aussagen belegen, u.a. die wenig sensible Bemerkung des CONAGUA (Comision Nacional del Agua) Bosses, der sagte: “se salen o se ahogan, les vamos a comprar lanchas y salvavidas para que no se preocupen” (sie gehen oder sie gehen unter, wir werden ihnen Boote und Schwimmwesten kaufen, damit sie sich keine Sorgen machen müssen).



Aber zurück zu unserer Pflanze. Antonio Vazquez erzählte uns von einer Agave temacapulinensis, an deren Beschreibung als neue Spezies er gerade arbeitete. Verschiedene Kollegen wollten sich die Bestäuber dieser Agavenart anschauen und so wurde festgelegt, an einem Wochenende im Mai einen Ausflug nach Temacapulín zu unternehmen. Besagtes Wochenende nahte und alles schien wie geplant zu verlaufen. Wir bekamen die Bestätigung von Antonio, dass wir uns tatsächlich am Samstag gegen Mittag bei der ersten grösseren Population von Agave temacapulinensis treffen würden. Sicherheitshalber packten wir alles Campingmaterial ein. In der Kühlbox hatten wir eine grosse Wassermelone und sogar einen grossen Blechkuchen mit Aprikosen hatten wir für die ganze Mannschaft gebacken. Als wir am Treffpunkt erschienen, war dort gerade Antonio dabei, seine Siebensachen zu schultern. Begleitet wurde er von seiner hochschwangeren Frau und seiner Stieftochter. Alle anderen hatten ihn kläglich im Stich gelassen. Die Pflanzen weit unten hatten alle alte Brandschäden, die sich langsam auswuchsen. Weiter oben standen allerdings gesunde Populationen und einige Exemplare fingen gerade an zu blühen. Es sind schöne Pflanzen mit blaugrauen Blättern, deren Blattrand oft stark gewellt und gefährlich bezahnt ist. Sie erinnern entfernt an eine Agave durangensis oder eine blaue A. wocomahi, mit denen die Art in der soeben erschienenen Erstbeschreibung (Novon 22, 2012) auch verglichen wird. Wir fuhren weiter dem Rio Verde entlang, dessen Ufer von uralten Taxodium-Bäumen (Zypressen) gesäumt wird und dessen Wasser leider relativ verschmutzt ist, was die Lokalbevölkerung allerdings nicht von einem kühlenden Bad abhielt. Weiter flussabwärts besuchten wir eine weitere Population von Agave temacapulinensis. Danach furteten wir den Fluss dreimal und landeten schliesslich auf der anderen Seite, von wo wir etwas in die Höhe und Richtung Mexticacan fuhren. Auch hier gab es eine weitere Population der neuen Agavenart. Antonio und sein Team hatten die ganze Gegend abgesucht und nur wenige Populationen gefunden. Mit der Einweihung des Staudammes wird bis zu 80% der Population unter Wasser gesetzt. Der verbleibende Rest gedeiht in einer Gegend, die durch Viehzucht und Landwirtschaft gestresst wird. Nach getaner Arbeit setzten wir uns am Fluss unten in den Schatten einer Zypresse und genossen die erfrischende Wassermelone und den Aprikosenblechkuchen. Antonio und seine Familie verabschiedeten sich am späteren Nachmittag nach Guadalajara. Wir stoppten nochmals beim ersten Standort, um bessere Bilder der Agaven zu machen.



In Temacapulín gab es sogar ein Hotel. Zufälligerweise trafen wir die Managerin, die normalerweise in einem Schwimmbad arbeitet, auch gerade an. Die Zimmer waren hell, sauber und preiswert und das Hotel direkt am Hauptplatz gelegen. Nun machten wir uns auf einen Dorfspaziergang. An vielen Gebäuden hingen Plakate mit der Aufschrift "Esta casa NO se vende, NO se reubica, NO se expropia, NO se inunda. Respeten lo que no es suyo y dejenos en paz" (dieses Haus wird weder verkauft, noch verschoben, noch enteignet, noch überschwemmt. Respektiert, was nicht Eures ist und lasst uns in Frieden). Auf einer alten Holztür stand ganz einfach in roter Farbe "No a la Presa". Bei der Kirche wurde auf einem bunten Plakat sogar an die Hilfe der Jungfrau appelliert. Rund um den Hauptplatz herum hingen weitere Plakate, die die Geschichte des Staudammprojektes erläuterten und die Argumente der Gegner darstellten. Ansonsten sah es überhaupt nicht so aus, als ob die Bewohner vorhätten, bald aus ihren Häusern nach Talicoyunque umzusiedeln. Etwas später setzten wir uns in ein kleines Lokal, wo es schmackhafte Tacos de Carne asada gab. Um die Ecke durften wir uns ein Bier besorgen.



Bei einem weiteren Besuch Mitte August gefielen uns die Pflanzen noch besser. Die ganze Landschaft war grün, die Gräser saftig, die Büsche übersät mit Blüten, die Regenzeit war in vollem Gange. Gegen das satte Grün der Wiesen sahen die blauen Rosetten von Agave temacapulinensis wunderschön aus. Kein Vergleich zur vertrockneten, gelb-braun-grauen Landschaft vom Mai, wo die einzigen Farbtupfer die gelben Blüten der Agaven gewesen waren. Am Fluss unten mussten wir leider umdrehen. Dank der Regenzeit war der Wasserstand angeschwollen und wir wollten nicht riskieren, im roten, undurchsichtigen Wasser irgendwo steckenzubleiben. Am Dorfausgang unterstützten wir die lokale Oekonomie ein bisschen und kauften einen grossen Sack getrockneter Chile de Arbol. Ein weiterer Besuch steht uns noch bevor, denn irgendwo bei der dritten Flussdurchfahrt hatten wir einen riesigen Stein gesehen, den wir gerne mit dem nötigen Werkzeug und bei niedrigem Wasserstand für den Garten abholen wollen. Wir haben noch bis Mitte 2014 Zeit, wenn die Staumauer anscheinend fertig sein wird und das Tal geflutet wird.



Oktober 2012



Julia Etter & Martin Kristen