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Reisen mit Mäge II - Zugfahrt mit dem Chepe



Zu einem runden Geburtstag hatte sich Mäge eine Reise nach Mexiko geschenkt und uns zu der Zugfahrt mit dem berühmten CHEPE (eine Abkürzung für Chihuahua al Pacifico) durch die Kupferschlucht eingeladen. Für die total 653 Kilometer von Chihuahua bis nach Los Mochis an der Pazifikküste braucht der Zug ungefähr 14 Stunden, fährt durch 86 Tunnel und über 37 Brücken, und überwindet eine Höhendifferenz von 2400m von der Siera Tarahumara bis an den Pazifik hinunter. Die Entstehungsgeschichte dieser Zugstrecke ist kompliziert und es gab verschiedene Bauetappen unter verschiedenen Bauherren. Teils waren es Amerikaner für die Kansas City Railroad, doch ab 1940 übernahm die mexikanische Regierung alle Eisenbahnstrecken in Mexiko. Die einfachen Streckenabschnitte waren zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt, es fehlten nur noch die kompliziertesten 258km zwischen Creel, Chihuahua, und San Pedro, Sinaloa, wo die westliche Sierra Madre durchquert werden musste. Am 24. November 1961 wurde dieses Meisterwerk mexikanischer Ingenieurskunst feierlich eingeweiht und zum 50. Jubiläum in 2011 gab es verschiedene attraktive Angebote. Wir profitierten von 2x1 Angebot, das für die ganze Strecke galt und immer noch billiger war, als Einzelfahrkarten von Creel aus zu lösen. Allerdings stellte sich das Problem, wie wir zu den Fahrkarten kommen sollten, da wir nicht in Chihuahua einsteigen würden. Die mexikanische Ingenieurskunst hatte vor 50 Jahren zwar eine grandiose Eisenbahnstrecke zustande gebracht, doch im Jahre 2011 war es unmöglich, eine Fahrkarte per Computer zu kaufen und als E-Ticket auszudrucken. Schliesslich wurde eine Lösung gefunden und die Fahrkarten wurden uns per teurem Kurier zugestellt. Wer Interesse an einer Fahrt mit dem Chepe hat, kann sich auf dieser Webseite (direkter Link hier) über Fahrplan und Preise informieren.



Richtung Norden wollten wir Mäge natürlich auch dieses Mal etwas von Mexiko zeigen und fanden sogar ein paar Orte, die wir auch noch nie besucht hatten. So z.B. Ojuela, ein Minen-Geisterdorf mit einer 318m langen Hängebrücke über eine 95m tiefe Schlucht, die bei ihrer Konstruktion in 1898 die zweitlängste Hängebrücke der Welt war. Die Mine kann bis ins Jahr 1598 zurückverfolgt werden, als die Spanier Gold- und Silbervorkommen entdeckten. Auf einem Hügel wurde eine kleine Ortschaft mit einer Post, einer Kirche, verschiedenen Lagerhäusern, Geschäften und Salons erbaut, von der heute nur noch wenige Steinmauern sichtbar waren. Die Peñoles Mining Company kaufte die Mine im 19. Jahrhundert und rekonstruierte die Hängebrücke vor kurzem. An der Abzweigung nahe Mapimi, Durango, mussten wir einen kleinen Obulus entrichten. Bald erreichten wir auf einer mit Schlaglöchern übersäten Strasse die ersten Hügel, dahinter erhoben sich imposante, fast senkrechte Berge. Von hier führte eine enge, einspurige Piste in die Höhe. Bald schon kamen wir an den ersten grauen Steinmauern, die perfekt in die graue Kalksteinfelsen-Landschaft passten, vorbei. Nach ganzen sieben Kilometern erreichten wir oben den Parkplatz, wo gerade die ersten Verkaufsstände aufgebaut wurden. Die Hängebrücke war wirklich beeindruckend, v.a. wenn man die extrem dicken Stahlseile und Träger betrachtete. Der nicht schwindelfreie Martin war froh, dass die Brücke stabil gebaut war und die Holzplanken, auf denen wir vorsichtig über den Abgrund gingen, stabil und neu aussahen. Es durften nicht mehr als 20 Personen auf einmal über die Brücke gehen, da sie in Schwingung geraten könnte und es einem Menschen schwindelig werden könnte und er evt. durch die nicht abgesicherten Seiten in die Schlucht herunterfallen könnte. Da wir früh am Morgen die einzigen Besucher waren, bestand keine Gefahr der Ueberbelastung, doch wir konnten wirklich die Schwingungen der Brücke fühlen, wenn sich alle drei gleichzeitig bewegten. Auf der anderen Seite angekommen liessen wir uns von einer Tour durch die Mine überzeugen. Wir erhielten Karbid-Lampen, die als Reaktion von Kalziumkarbid und Wasser brennen. Karbidlampen wurden früher für Autos und Fahrräder benützt und waren auch im Minenbau weit verbreitet. Unser Führer wusste alles über die Geschichte der Mine und führte uns durch enge und niedrige Schächte zu einem Aussichtspunkt, von wo aus wir die Hängebrücke und das Geisterdorf noch besser sehen konnten. Auf dem Rückweg zur Hauptstrasse hinunter mussten wir zuerst warten, bis einige Fahrzeuge den Berg hinaufgefahren waren, was per Funk gemeldet wurde. Eine Gruppe Studenten kam uns zu Fuss entgegen, deren Bus zu gross für die enge Piste war. Wahrscheinlich hatten sie keine Ahnung, dass sie noch einige Kilometer zu Fuss gehen mussten, bis sie oben bei der Hängebrücke angelangt waren.



Am späteren Nachmittag schafften wir es, Hidalgo del Parral zu erreichen, wo wir allerdings grosse Mühe hatten, ein Hotelzimmer zu finden. Es stellte sich heraus, dass die mexikanischen Anonymen Alkoholiker ihren Jahreskongress ausgerechnet an diesem Wochenende in Parral abhielten, doch schliesslich ergatterten wir zwei überteuerte Hotelzimmer fast im Zentrum. Die AA's waren überall und einfach durch ihre blau-weissen Namensschildchen zu identifizieren, die sie sich um den Hals gehängt hatten, was natürlich nicht mehr viel mit Anonymität zu tun hatte.



Von Parral fuhren wir weiter nach Guachochi, wo wir den Nachmittag an der Barranca de Sinforosa verbrachten und die grandiosen Aussichten genossen. Es reichte sogar für einen gemütlichen Spaziergang zu der Hängebrücke hinunter. Am nächsten Tag nahmen wir die Strecke über Yoquivo nach Mineral Polanco unter die Räder. Wir fuhren durch endlose Nadelwälder, kurvten Berge hinauf und hinab, konnten aber ausser einer blühenden Villadia laxa und vereinzelten Agave wocomahi nicht viel Interessantes bis nach Yoquivo entdecken. Wir hatten gehört, dass man in Yoquivo von bewaffneten Männern befragt würde, doch obwohl wir für ein Refresco stoppten, sahen wir keine schwarz gekleideten Männer. Hinter Yoquivo fotografierten wir dann Echeveria chihuahuaensis und erreichten nach ca. 100 Kilometern endlich den lang ersehnten Abstieg nach Mineral Polanco. Nach jeder Kurve wurden die Ausblicke über endlose blaue Bergketten und in tiefe Schluchten immer fantastischer. Die Sonnenstrahlen fielen teils durch dicke Wolken, was die Landschaft in ein wunderschönes Licht tauchte. Wir kamen vorbei an Hängen mit Agave wocomahi, A. multifilifera, Yucca madrensis, Dasylirion wheeleri, einer Baum-Nolina und Echinocereen und Mammillarien, und fast schon in Mineral Polanco sahen wir die ersten Ferocactus pottsii. Von 2400m in Guachochi waren wir in Mineral Polanco auf 1500m angekommen. In Mineral Polanco, einem Nest mit ungefähr 500 Einwohnern, fanden wir am Dorfeingang ein kleines Hotel. Gegenüber gab es eine "Tankstelle" von der Sorte wo der Tankstellenwart das Benzin aus einem Kanister mit einem Schlauch ansaugt und dann in den Tank laufen lässt. Die Hotelzimmer waren alle ebenerdig und man teilte sich das Bad, worüber wir uns allerdings keine Sorgen machen mussten, denn es gab fort momentan sowieso kein fliessendes Wasser. Daneben befand sich das erst kürzlich erbaute Restaurant mit einer Küche ohne Spülbecken oder fliessendem Wasser. In der Abendsonne sassen wir in unseren Campingstühlen vor dem Hotel und genossen die Ruhe bei einem kalten Bier aus der Dose. Im Restaurant wurde gerade eine Gruppe Arbeiter verköstigt, danach waren wir an der Reihe. Die Köchin, eine junge Frau mit traurigen Augen, entschuldigte sich für das kurze Menu, das aus leckeren Burritos, Bohnenpuree und dicken, handgemachten Tortillas bestand. Alle anderen Lebensmittel waren ausgegangen, nur der Vorrat an Bierdosen war gut gefüllt. Was konnte man am Ende der Welt mehr erwarten?



Am nächsten Morgen wurde uns im Restaurant ein Kaffee serviert. Dazu gab es Rühreier mit dicken Schinkenscheiben und handgemachten Tortillas. Die Köchin hatte sichtlich nichts anderes vor am heutigen Tage, denn sie nahm sich alle Zeit der Welt, jedes unserer Frühstücke einzeln zuzubereiten. Sie war etwas aufgetaut und wollte zuerst wissen, ob uns in Yoquivo die schwarzen Männer nicht angehalten hätten. Dann stellte sie uns Fragen über Fragen über die Schweiz. Sie war in ihrem Leben gerade mal bis nach Guachochi gekommen und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass wir freiwillig in unseren Ferien ausgerechnet nach Mineral Polanco gekommen waren. Für sie war die Schönheit der Landschaft, der blaue Fluss am Talgrund, die fantastische Sicht über die endlosen Bergketten und die göttliche Ruhe in der Nacht eine Alltäglichkeit, die sie gar nicht mehr wirklich bemerkte.



Von Mineral Polanco aus fuhren wir nun weiter in Richtung Batopilas. Zuerst kamen wir nach Jesus Maria, dahinter wurde die Piste extrem schlecht und viele Stücke waren ausgewaschen und weggebrochen. Bis nach San Jose Valenciano kamen wir nur mühsam vorwärts. Die Landschaft war extrem eintönig, in Grau-Braun-Gelb-Töne getaucht und ausgetrocknet. Das einzige Grün kam von Säulenkakteen wie Stenocereus thurberi und Pachycereus pecten-aboriginum. Schliesslich erreichten wir auf ca. 900m Höhe den Rio Batopilas, wo wir vergebens nach einem schattigen Baum am Fluss Ausschau hielten. In Satevo war die im Jahre 1640 erbaute und neulich gelb gestrichene Kirche leider verschlossen. Wir kamen durch ein enges Tal, von wo aus wir schöne Blicke zurück auf die gelbe Kirche hatten, die ein gutes Fotosujet abgab. Von hier erreichten wir in wenigen Kilometern die Ortschaft Batopilas, die 1632 von den Spaniern gegründet wurde als sie grosse Silbervorkommen fanden. Das lukrative Minengeschäft gehörte längst der Vergangenheit an, viele Häuser waren heruntergekommen, nur um den Hauptplatz herum sah es nach Tourismus aus. Batopilas wurde in ein enges Flusstal hinein gebaut und die Häuser reihten sich entlang der Hauptstrasse auf der einen Flussseite, auf der anderen Seite waren die roten Gemäuer von Shepherd's Villa, einem Gouverneur von Washington, D.C., der 1875 hierher auswanderte, zu sehen und einige Hütten waren in den steilen Berghang gebaut. Auf der Suche nach einem Hotel wanderten wir entlang der Hauptstrasse und gaben schliesslich auf. Eine Polizeipatrouille erwähnte mehrere Hotels um den Hauptplatz herum und gab uns netterweise einen rite, eine Mitfahrgelegenheit, auf der Ladefläche ihres Autos. Das von ihnen erwähnte Hotel war wohl das beste am Platz, in einem schönen alten Haus mit begrüntem Innenhof und sehr stilvoll eingerichtet, doch leider lag es etwas ausserhalb unserer Preisklasse. Um zwei Ecken herum kamen wir dann im Hotel Juanita's unter, das eine schöne Sicht auf den Fluss und einen grünen Innenhof mit riesigen Bäumen und Sitzgelegenheit hatte. Gegenüber fanden wir ein Restaurant, wo uns im Hinterhof Bier und Zitronenlimonade für einen Radler serviert wurden. Ein Tarahumara Indianer leerte eine Literflasche Bier fast in einem Zug. Eine Gruppe Männer trank ebenfalls Bier und sprach über die gegenwärtige schwierige Wirtschaftslage. Bei unserem Spaziergang durch das Dorf kam es uns vor, als ob das lukrativste Geschäft war, Luxusautos hier herunterzufahren und auszuschlachten. Als wir uns am Abend ein Bier in einem Geschaft kaufen wollten, wurden wir darüber aufgeklärt, dass offiziell ausser in Restaurants und Bars kein Bier verkauft werden dürfe, aber dass wir an einem kleinen, dunklen Platz bei Don Valentin klandestin Bier kaufen könnten.



Am nächsten Tag ging es das enge Tal des Rio Batopilas entlang. Die Landschaft war hier eher subtropisch und grüner als auf der gestrigen Fahrt. An den steilen und praktisch unzugänglichen Berghängen konnten wir immer wieder ein kleines Gehöft einer Tarahumara Familie ausmachen. Entlang der Piste kamen uns auch immer wieder bunt gekleidete Tarahumaras entgegen. Die Männer trugen weisse Hemden und einen spitz zulaufenden, dreieckigen Lendenschurz, der hinten die Oberschenkel bedeckte und einen Cowboyhut. Die Frauen waren in viele Lagen bunter Röcke und Blusen eingewickelt. Ein oranger Rock wurde mit einem hellblauen Oberteil und einer roten Tasche kombiniert. Oder ein gelber Rock kontrastierte mit einem blauen Oberteil. Dazu gehörte natürlich immer eine bunt bestickte Umhängetasche. Wir kamen an einem schräg im Graben am Berghang geparkten Abschleppfahrzeug vorbei. Ein einzelner Mann war dabei, Stahlseile zu einem in den Abgrund gestürzten und zwischen Büschen eingeklemmten Lieferwagen herunterzulassen. Wie durch ein Wunder war der Fahrer lebend aus dem Wrack herausgestiegen. Der ganze unheimliche Aufwand, ein Abschleppfahrzeug bis hierher zu bestellen und den Lieferwagen aus dem Abgrund heraufzuseilen wurde auch nur deshalb betrieben, weil er versichert war und ein Versicherungsangestellter den Schaden aufnehmen musste. Bei La Bufa kamen wir über die Holzbrücken, über die wir Jahre vorher schon mit dem Unimog gefahren waren. Nun schraubte sich die Piste langsam in die Höhe. Vor einer Kurve blockierte ein Lastwagen die Piste, die beiden Camioneure warteten auf Hilfe, doch mit dem Allradantrieb kamen wir über die Böschung am Hindernis vorbei. Von 936m bei La Bufa ging es in Haarnadelkurven bis auf über 2000m in die Höhe hinauf. Als wir aus dem Steilhang herauskamen, empfing uns eine Strassenbaubelegschaft. Die Landschaft war furchtbar zerstört, ohne Rücksicht auf Verluste wurden Felsen und Hänge weggesprengt und Schutt den Berg hinuntergeschüttet. Wir erreichten bald darauf auch tatsächlich eine neu asphaltierte Strasse, die in einigen wenigen Jahren sicherlich von Schlaglöchern übersät sein wird, doch im Moment waren wir froh über den angenehmen Untergrund. Einer unserer Reifen hatte uns schon länger Sorgen gemacht weil er sich langsam in seine Einzelteile zerlegte. Die schnellere Fahrweise auf dem Asphalt tat ihm sichtlich nicht gut und mit einem lauten Knall fetzte ein grosses Stück Gummi weg. Wir fuhren nun etwas langsamer und vorsichtiger in der Hoffnung, an der Einmündung in die grosse Strasse eine Werkstatt zu finden. Es gab tatsächlich eine Llantera, doch sie war geschlossen, weil der Mann irgendwo sonst Arbeit gefunden hatte. Wir fuhren ein paar Kilometer in ein kleines Dorf zurück in eine Werkstatt, doch der ältere Mann hielt uns für Gringos und wollte partout nicht sagen, wieviel er für einen Reifenwechsel verlangte. Nachdem er auch noch ausfällig wurde, beschlossen wir, dass wir einen Reifen wenn nötig auch selber wechseln konnten. Irgendwo zwischen der Einmündung und Creel gab es dann einen weiteren lauten Knall und der Reifen hatte sich endgültig in seine Einzelteile aufgelöst. Gut vorbereitet hatten wir Wagenheber und Montagewerkzeug schnell zur Hand und hatten auch schon mal ausprobiert, wie der Ersatzreifen von unter dem Auto herabgelassen wurde. Mit Mäge's tatkräftiger Unterstützung war der Reifen in Nullkommanichts gewechselt und wir waren wieder unterwegs nach Creel, wo wir im Hotel 'Los Valles' unterkamen, das wir von früher her kannten. Als erstes feuerten wir die Gasheizung in den Zimmern an, dann fanden wir ein Restaurant, wo wir uns verdientermassen ein ausgiebiges, spätes Mittagessen gönnten.



Da unser Zug nicht vor 11:20 losfuhr, konnten wir ausschlafen und gemütlich ein gutes Frühstück verdrücken. Es reichte sogar noch für den Besuch einiger Souvenirgeschäfte, um Mäge's Gepäck bis zum erlaubten Limit zu füllen. Wir fanden sogar frische Serrano Chiles und mexikanisches Marzipan, hergestellt aus Erdnusskernen, das sie ihrer Spanischlehrerin mitbringen sollte. Pünktlich standen wir dann mit unseren Siebensachen an der Zugstation, wo die Warterei begann. Zuerst vertrieben wir uns die Zeit mit fotografieren und Gesprächen mit anderen Reisenden. Irgendwann fanden wir vom Verantwortlichen heraus, dass der Zug etwas Verspätung hatte. Also warteten wir geduldig weiter in der steifen Bise, die einem die Hände und Füsse einfrieren liess. Tarahumarafrauen sassen auf dem kalten Boden und flochten kleine Körbchen, die sie zum Verkauf anboten. Ein auf jung aufgemachtes, mittelalterliches Paar mit identischen blauen Superman T-Shirts war Grund zum Amuesement, hatte aber nur Augen für sich selber. Die Frau nutzte die viele Warterei dazu, um mit immer neuen Dosen, Sprays und Schminke aus ihrem Beauty Case auf der Toilette zu verschwinden. Jedesmal wenn wir den Zugsverantwortlichen sahen, erklärte er uns, dass der Zug immer noch ein bisschen mehr Verspätung hatte. Schliesslich dampfte und pfiff der Zug mit 2 1/2 Stunden Verspätung ein und grosse Hektik brach auf dem Perron aus. Die meisten Passagiere stiegen hinten in die 2. Klasse ein, während wir vorne in die beiden Erstklasseabteile hochkletterten. Bei uns gab es einen uniformierten, älteren Herrn mit steifem Hut, der die Fahrkarten kontrollierte und sich um das Wohl seiner wenigen Erstklassefahrgäste kümmerte. Wir waren an einem Donnerstag unterwegs und hatten den Waggon praktisch für uns alleine. In eineinhalb Stunden kamen wir in Divisadero Barrancas an, wo die Passagiere aussteigen konnten und 20 Minuten Zeit hatten, sich durch die Fressbuden und Souvenirstände zu kämpfen, um am Schluchtenrand einen Blick zu erhaschen und für ein Foto zu posieren. Diejenigen, die sich auskannten, gönnten sich eine Quesadilla oder eine andere Köstlichkeit vom Comal, was bestimmt billiger und schmackhafter war, als was uns später im Speisewagen vorgesetzt wurde. Der Zug fuhr in weiten Kurven durch Nadelwälder langsam abwärts. Zuerst fuhren wir durch eine schöne Schlucht und in einer weiteren Stunde erreichten wir Bahuichivo, wo eine Menschenmenge an der Station wartete. Autos und Vans waren so wild und quer geparkt, dass einer dem anderen den Weg versperrte. Aus den Zweitklassabteilen stiegen an jeder noch so kleinen Station Passagiere zu und aus.



Hinter Bahuichivo wurde es richtig spannend. Hier gab es die meisten Tunnels und Brücken und die Landschaft war richtig wild. Der Zug fuhr so nah an bewachsenen Felswänden vorbei, dass man die Pflanzen fast berühren konnte. Die Natur schien unberührt, weit und breit war keine Strasse zu sehen. Nur ab und zu hielten wir irgendwo bei ein paar Hütten an, um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen. Schwarz gekleidete und schwer bewaffnete Männer patroullierten durch den Zug. Das Zweitklassabteil war mit einem Metallgitter von der ersten Klasse getrennt. Zwischen den Waggons konnte man sich an offene Fenster stellen, von denen aus man die besten Ausblicke in die wilde Landschaft hatte. In langen Kurven fuhr der Zug am späten Nachmittag in Temoris ein. Danach wurde die Landschaft flacher, die Schlucht breiter, und das Tageslicht ging langsam aus. Schliesslich fuhren wir durch pechschwarze Nacht und trafen um 22:30 Uhr in Los Mochis ein, wo wir eigentlich kurz vor 21 Uhr hätten eintreffen sollen. Irgendwie hatten wir alle die Idee, dass es in Los Mochis, der Endstation des Zuges, mindestens ein Hotel am Bahnhof geben müsste. Als wir über die Geleise vor die Station traten, sahen wir allerdings nur einen riesigen Parkplatz und eine lange Kolonne von Taxis, die Kunden einluden. Wir bestiegen also auch ein Taxi und liessen uns zu einem Hotel chauffieren, das in der Broschüre des Chepe mit einem Rabatt für Zugreisende geworben hatte. Das Hotel sah sehr gut aus, doch als wir an der Rezeption nach freien Zimmern fragten, wurde uns mitgeteilt, dass alles besetzt sei. Diesmal war es nicht der Kongress der Anonymen Alkoholiker, sondern die jährliche Messe hatte gerade begonnen. Gegenüber erkundigten wir uns in einem etwas heruntergekommenen riesigen Hotel, wo tatsächlich ein letztes Zimmer, allerdings für sechs Personen, verfügbar war. Der Preis war OK, v.a. wenn man um Mitternacht in einer einem unbekannten mexikanischen Stadt auf Hotelsuche ist. Es gab allerdings keine Fernbedienung für den TV, was uns zu dieser Stunde völlig egal war, und auch die Handtücher waren ausgegangen, doch Mäge hatte die geniale, sehr mexikanische Idee, die Leintücher der drei unbenützten Betten als Handtücher zu benützen. Auf dem Bürgersteig war ein Tacostand aufgebaut, wo sich die Hotelgäste der Umgebung zu später Stunde verpflegten. Mit dem Taxifahrer hatten wir verabredet, dass er uns am nächsten Morgen um fünf Uhr in der Früh abholen würde.



Die Nacht war sehr kurz. Der Taxifahrer stand pünktlich unten vor dem Hotel und entstaubte sein Auto, während er auf uns wartete. Wir fuhren zurück an die Zugstation, wo wir aus dem Kofferraum eines Autos heraus heissen Kaffee erstanden. Hier verabschiedeten wir uns von Mäge. Wir würden um sechs Uhr den Zug nach Creel nehmen, während Mäge vom Taxifahrer an den Flughafen chauffiert wurde, von wo sie um neun Uhr einen Flug nach Mexico City hatte, um danach in die Schweiz weiterzufliegen. Als sie beim Flughafen ankam, waren dort noch alle Tore verschlossen, doch der Taxifahrer wartete geduldig mit ihr bis der Bus mit den Flughafenangestellten endlich eintraf. Ihr Flug war der erste und hatte trotzdem reichlich Verspätung, doch daran hatte sie sich ja schon gewöhnt. Unser Zug zuckelte pünktlich um sechs Uhr aus dem Bahnhof aus. Es war Freitag und die erste Klasse ziemlich gefüllt. Wir hatten uns bessere Platze ergattert, als uns gemäss Fahrkarte zustanden, doch es schickte uns keiner weg. Gegenüber sass eine Frauengruppe aus Culiacan, die zu einer Hochzeit nach Chihuahua fuhren. Der Rest des Waggons war mit einer Reisegruppe aus Pachuca und ein paar Individualtouristen gefüllt, die meisten davon Mexikaner. Der Zugbegleiter von gestern war heute wesentlich aktiver und wies die Fahrgäste per Lautsprecher auf Besonderheiten der Strecke hin. Wir erstanden eine Kaffeetasse, die wir uns während der ganzen Fahrt kostenlos im Speisewagen füllen lassen konnten. Die ersten paar Stunden hinter Los Mochis waren denkbar langweilig, alles war flach, gelb und ausgetrocknet. Die wenigen Höhepunkte waren die Fahrt über die mit 498.8m längste Brücke der Strecke über den blauen Rio Fuerte. Darauf der erste und mit 1823m auch längste Tunnel der Strecke. Und kurz darauf die Brücke über den Rio Chinipas, die sich 103.6m über dem Flussniveau befand und somit die höchste der Strecke war. Danach näherten wir uns endlich den Bergen und es wurde wieder spannend.



Hatte man einmal einen Fensterplatz zwischen den Waggons ergattert, konnte man ihn nicht mehr aufgeben, oder er war sofort von anderen Leuten besetzt. Aufwärts musste der Zug sichtlich mehr arbeiten und wir waren oft in Dieseldampfschwaden eingehüllt. An einer Station erstanden wir eine Tüte mit Grapefruits. Den Speisewagen suchten wir nicht auf, wir hungerten lieber, bis wir in Creel anlangten. Zwar war die Bedienung am vorherigen Tag ganz nett gewesen, doch auf einen Hamburger mit Pommes konnten wir gut verzichten, v.a. nachdem wir herausgefunden hatten, dass die teuren Preise der Speisekarte die Steuer noch nicht beinhalteten! Diesmal hielt unser Zug lange in San Rafael, um auf den Zug aus der Gegenrichtung zu warten, der - was denn sonst? - Verspätung hatte. Kaum hatten wir angehalten, waren die Türen und Fenster auch schon von Tarahumarafrauen mit Babies auf dem Rücken umschwärmt, die alle mit flehenden Blicken, traurigen Augen und ausgestreckten Armen ihre geflochtenen Körbchen zum Verkauf anboten. Schliesslich erreichten wir Creel mit "nur" 1 1/2 Stunden Verspätung und wünschten unseren Nachbarinnen eine gute Weiterfahrt. Sie würden Chihuahua erst in fünf weiteren Stunden erreichen.



Mit unserem kleinen Reiseköfferchen waren wir schnell zurück im Hotel, wo wir unser Fahrzeug mit Erlaubnis der Besitzer sicher im Hinterhof geparkt hatten. Sofort heizten wir das Zimmer kräftig ein und füllten unsere knurrenden Mägen mit einem scharfen Chiligericht und Bohnen. Erschöpft von der langen Zugfahrt und dem Nichtstun sanken wir früh in die Federn, um am nächsten Tag die Reise nach Süden anzutreten, von der wir im nächsten Reisebericht erzählen werden.



Dezember 2011



Julia Etter & Martin Kristen