travelog 100






Barranca de Urique



Sedum craigii wurde 1939 im Kupfercanyon, genauer in einer Felswand des Urique Canyons, gefunden und 1943 beschrieben. Seither wurde die Spezies nie mehr am Naturstandort gefunden, bis Jürgen Lautner sie auf einer Reise nach Chihuahua in 2009 wiederfand. Myron Kimnach erzählte uns von Lautners Fund und publizierte 2010 einen kurzen Artikel darüber. Lautner gab keine GPS Position oder genauere Daten zum Fundort bekannt, da er befürchtete, die Pflanze würde sonst ausgerottet, und Kimnachs Artikel war nur ein Foto der Aussicht auf Urique beigefügt. Unsere Neugier war wieder einmal geweckt und so fuhren wir von Guachochi nördlich nach Creel, um von dort nach Urique hinunterzufahren.



Die Strecke zwischen Guachochi und Creel führt durch dichte Pinienwälder. Echeveria chihuahuaensis, E. craigiana, Sedum madrense und S. raramuri sind natürlich immer einen Fotostop wert. Agave wocomahi und A. filifera ssp. multifilifera bevölkern die Berghänge. Wir passieren kleine Siedlungen, kommen durch wunderschöne Flusstäler, und an den schattigen Stellen ist am Morgen die Strasse teilweise noch etwas vereist. Wir erreichen Creel erst am späten Nachmittag. Seit unserem ersten Besuch 2001 ist die kleine Stadt betraachtlich gewachsen. Und zum "Pueblo magico" ernannt worden. Wahrscheinlich nicht weil die Stadt so hübsch ist, sondern weil die Umgebung spektakuläre Landschaften beherbergt. Im Zentrum von Creel reiht sich ein Souvenirgeschäft ans nächste. Es gibt viele Hotels, Restaurants und Bars und zuviel Verkehr. Im Zentrum finden wir an einer ruhigen und dunklen Seitengasse das Hotel 'Los Valles', ein neues Hotel mit geräumigen Zimmern mit Gasofen, den man im Winter dringend nötig hat. Es gibt Kabelfernsehen und Internet ist im dazugehörenden Restaurant an der nahegelegenen Strassenecke erhältlich.



Früh fahren wir Richtung Divisadero, wo wir erst einmal die grandiosen Blicke runter in die Schlucht geniessen. Wo wir in 2001 noch wild am Schluchtenrand campiert hatten, ist nun alles entweder Parkplatz oder Wanderweg. Etwas ausserhalb wurde Mitte 2010 eine Seilbahn eingeweiht, die von einer schweizerisch-österreichischen Firma gebaut wurde. Die roten Kabinen bieten Platz für 60 Personen und legen zwischen Divisadero und einer Station 350 m weiter unten 2.7 Kilometer zurück, an einigen Stellen beträgt die Höhendifferenz zum Boden 450 m. Dies ist die erste Etappe eines riesigen Projektes, das in der Zukunft irgendwann einmal mit der Seilbahn bis an den Schluchtengrund gelangen will. Wir ersparen uns die teure Fahrt, da wir ja sowieso mit dem Auto bis nach Urique hinunterfahren werden.



Gleich neben Divisadero liegt San Rafael, wo wir die Eisenbahnschienen zum x-ten Mal überqueren. Für eine kurze Weile befinden wir uns auf einer ganz neu geteerten, breiten Strasse, die allerdings bald in eine breite, staubige Piste übergeht, um danach enger und noch staubiger zu werden. Der Gegenverkehr ist beeindruckend. Es sind durchwegs grosse Lastwagen, die Gestein aus vielen Minen in diesem riesigen Gebiet heraustransportieren. Die meisten rasen ohne Rücksicht auf Verluste, d.h. sie sind extrem schnell und möglichst in der Mitte der Piste unterwegs. Bei jeder Begegnung wird man völlig eingestaubt und sieht für eine ganze Weile nichts als eine weisse Staubwolke. Die Vegetation entlang der Strasse ist wie mit Puderzucker bestäubt. Immer wieder erhaschen wir Blicke in kleine Schluchten oder weit über die Nadelwälder hinweg. Nach einer Weile auf der steinigen Piste und dem vielen Staub brauchen wir dringend eine kleine Verschnaufpause. Ein steiniger Abhang mit einigen Agaven beherbergt auch ein einjähriges Sedum, von dem zu dieser Jahreszeit nur die alten Blütenstände sichtbar sind. Endlich erreichen wir Bahuichivo, wo es Hotels und Restaurants gibt. Am Bahnübergang müssen wir uns etwas gedulden, der "Chepe" (Ferrocarril Chihuahua-Pacifico mit dem Zeichen CHP, oder eben "Chepe") ist gerade angekommen. Passagiere steigen zu, andere steigen aus und fahren in kleinen Combis zu ihren teils weit entfernten Siedlungen.



Hinter Bahuichivo kommen wir durch ein schönes Flusstal, wo wir auch einen schattigen Platz am Fluss für ein Picknick finden. Wenn nur der Staub nicht wäre... In den Felsen und später entlang der Piste finden wir die ersten Agave polianthiflora. Die nächste grössere Siedlung ist Cerocahui. Nun geht es in Kurven steil den Berg hinauf Richtung Mesa de Arturo. Von unten kommende Fahrzeuge drücken aufs Gas, um alle Kurven zu schaffen. Von oben kommende Autos rattern mit rauchenden Bremsen den Berg hinunter. Dann geht es endlich wieder bergab und Richtung Urique. Bei einer gelben Wiese haben wir den ersten Blick in die mit 1879 m tiefste Schlucht des ganzen Kupfercanyon Systems. Etwas weiter kommen wir an eine senkrechte Felswand und treffen auf einen Mexikaner, der ein paar Amerikaner im Abendlicht noch schnell an diesen grandiosen Aussichtspunkt geführt hat. Er ist beeindruckt von unseren UNAM Klebern und wir kommen schnell ins Gespräch. Zusammen mit seinem Bruder führt er Cabañas ganz in der Nähe und organisiert Wanderungen, Pferdeausritte und Vogelbeobachtungstrips. In den senkrechten Klippen würden Papageien nisten, erzahlt er uns. Und warnt uns gleich vor der Abfahrt nach Urique, die die Bremsen jeden Autos an die Grenzen der Belastbarkeit bringen würde. In der späten Nachmittagssonne leuchten die Felswände der Schlucht in einem wunderschönen Licht. Wir verschieben aber alles auf den nächsten Tag, denn schliesslich müssen wir noch ungefähr 1500 m bis nach Urique hinunterfahren, oder besser kriechen. In der Untersetzung braucht man die Bremsen fast nicht, was ideal ist für diese Abfahrt. In einigen Kurven, die etwas flacher sind, stehen Häuser, und in den steilen Berghängen wird teilweise Mais angebaut. Weit unter uns glitzert der Rio Urique an dem die gleichnamige kleine Ortschaft Urique liegt. Die Piste lässt nicht viel Platz für Ausweichmanöver, doch es gibt um diese Tageszeit auch nicht mehr viel Verkehr. Meist geht es auf der einen Seite steil den Berg hinauf und auf der anderen Seite fällt die Piste ebenso senkrecht in den Abgrund. Ab und zu erhascht man einen Blick auf verunglückte Fahrzeuge, die zwischen den Bäumen in den senkrechten Abhängen hängen.



Endlich erreichen wir das Eingangstor von Urique, wo die engen Strassen asphaltiert sind. Im Zentrum fragen wir im Restaurant 'La Plaza' nach einem Hotelzimmer. Wir sind die einzigen Gäste im Hotel 'Estrella del Rio' mit einfachen aber sauberen Zimmern. Zu Fuss gehen wir nach einer erfrischenden Dusche zurück ins Zentrum und ins Restaurant (das ebenso dem Hotel-Eigentümer zu gehören scheint). Im begrünten Hinterhof stehen Tische und Stühle. Die Spezialität in Urique ist Camaron Aguachile. Eigentlich ist es ja verrückt, am Ende der Welt Meeresfrüchte zu essen, die per Propellerflugzeug eingeflogen wurden, doch wir sind eben zu neugierig, um uns diese Spezialität entgehen zu lassen. Bei einem kalten Bier vergeht die Wartezeit im Nu. Serviert wird der Aguachile in einem Molcajete, einem Steinmörser. In einer scharfen Brühe schwimmen kleine Crevetten, man löffelt das ganze mit viel Sauce und knabbert dazu an Tostadas, getoasteten Tortillas. Am späteren Sonntagabend sind in den Gassen von Urique nur noch Besoffene unterwegs und wir verziehen uns bald ins Hotel.



Das Frühstück nehmen wir wieder im gleichen Restaurant zu uns. In der Küche wird schon der erste Aguachile zubereitet, was mir Gelegenheit gibt, das Rezept mitzuschreiben. Im Molcajete wird Chiltepin, kleiner scharfer Chile, mit Salz, Knoblauch und Arí zu seiner Paste zerstossen. Arí, oder Gomilla, ist ein Harz, das von Ameisen produziert wird und von den Tarahumaras von den Bäumen gesammelt wird. Danach wird der Molcajete mit Ketchup und Kermato (Tomatensaft-Muschelsaft für Cocktails) gefüllt. Hinzu kommen gehackte Zwiebel und Tomaten. Dann folgen die Cocktailcrevetten und zum Schluss wird sparsam mit getrockneten Oreganoblättchen gewürzt. Der Aguachile wird im Molcajete sofort serviert und schmeckt herrlich - allerdings nicht zum Frühstück ! Wer Lust hat, kann das Rezept ja mal zu Hause versuchen (direkter Link hier), es schmeckt sicherlich hervorragend, auch wenn man die Spezialzutat Arí nicht im Vorratsschrank hat.



Gut genährt verlassen wir Urique wieder bergaufwärts. Vor uns fährt der öffentliche Bus in einem erstaunlichen Tempo den Berg hinauf. Morgens ist der Verkehr etwas dichter, doch auch das sind natürlich nur ein paar wenige Autos. Immer wieder stoppen wir, um die grandiose Aussicht zu geniessen, oder uns ein paar Pflanzen genauer anzusehen. Urique liegt auf ca. 500 m und in einer subtropischen Vegetation, die langsam in die Nadelwälder der Sierra Tarahumara übergeht. Diesen ganzen Wechsel bringt man mit dem Auto innert weniger Stunden hinter sich. Die steilen Berghänge auf ungefähr 2000 m Höhe sind dicht bewachsen mit Agaven, Dasylirion, Nolina und Yucca. Wir finden ein riesiges Polster von Echeveria craigiana. Beim 'Mirador Cerro Gallegos' verweilen wir uns etwas länger. Man steht oberhalb von senkrecht abfallenden Klippen und hat einen spektakulären Blick hinunter auf Urique und weit in das Schluchtensystem hinein. Aber eigentlich sind wir ja wegen Sedum craigii hierhergekommen.



Sedum craigii, nach R.T. Craig benannt, wurde von Lindsay und Craig auf einer Expedition in 1939 gesammelt. Craig (1902-1986) war Amerikaner, ein Zahnarzt und Botaniker, der v.a. als Mammillarienspezialist bekannt wurde. Auf besagter Expedition wurden je zwei Kakteen nach den Leitern benannt, nämlich Mammillaria craigii und M. lindsayi. Da wir von Myron Kimnach keine genaueren Angaben von Lautners Fundort bekommen konnten, kommen wir uns erst ein bisschen hilflos vor in Anbetracht der vielen Klippen, die es in der Gegend gibt. Doch schlussendlich werden wir fündig und können mit etwas waghalsiger Kletterei auch ganz nah an die Pflanzen herankommen, um gute Bilder zu machen. Sedum craigii bildet in den Felswänden grosse Polster und teilt sich das Habitat mit weiteren Sukkulenten. Aus Zeitmangel können wir nicht so lange herumsuchen, wie wir eigentlich wollen, doch wir sind überzeugt davon, dass in den vielen unzugänglichen Klippen mit dem gleichen Mikroklima weitere grosse Populationen dieser attraktiven Art gefunden werden können. Wir fahren immer weiter den Berg hinauf, bis wir hinter Mesa de Arturo wieder auf die sehr befahrene und schlechtere Piste treffen. Die Tage im Dezember sind einfach zu kurz und so ist es schon Nachmittag, als wir endlich wieder in Bahuichivo ankommen und uns zum Mittagessen in ein Restaurant setzen, das von der Lokalbevölkerung frequentiert wird. Auch hier gibt es Aguachile, den unser Tischnachbar vor sich stehen hat. Er ist ein junger Mann, der seinen Cowboyhut tief ins Gesicht geschoben hat. Den Kopf hat er so tief über den Molcajete geneigt, dass die Hutkrempe fast ins Wasser taucht, und so löffelt er sich das Gericht schlürfend direkt vom Molcajete in den Mund. Seine junge Frau ist schon fertig mit dem Essen und wartet vor der Türe auf ihn. Die Zeit vergeht wirklich viel zu schnell und so erreichen wir erst beim Eindunkeln endlich den Bahnübergang bei San Rafael. Bis nach Creel sind es noch 50 Kilometer auf einer kurvenreichen Strasse mit mehreren Bahnüberquerungen. Nun machen wir das, wovon man allgemein und mit gutem Grund abrät, wir fahren nachts durch die dunklen Wälder von Nordmexiko. Bald steigt genau vor uns ein riesiger oranger Vollmond über die Bergketten, der uns bis nach Creel begleitet. Wir quartieren uns wieder im Hotel 'Los Valles' ein. Es ist der 21. Dezember und in dieser Nacht können wir vom Parkplatz des Hotels aus eine totale Mondfinsternis beobachten. Diese Mondfinsternis ist seit 1638 übrigens die erste, die genau am Tag der Wintersonnenwende stattfindet.



Nun verlassen wir die Gegend der Kupferschluchten endgültig und fahren Richtung Westen nach Sonora. Unsere nächste Station ist das Rancho 'El Puerto' in der Sierra Matape, von dem wir im April 2001 ein erstes Mal berichtet hatten. Wir wollen Agave shrevei ssp. matapensis, A. ocahui var. longifolia, Yucca grandiflora und Nolina matapensis besuchen. Und natürlich nimmt es uns auch wunder, wie es Don Roberto und seiner Frau Graciela auf dem kleinen Gehöft geht. Doch davon werden wir Euch in einem nächsten Bericht erzählen.



Februar 2011



Julia Etter & Martin Kristen