travelog 10



Traditionelle Chinesische Medizin



Ort der Handlung: Victoria ! Westküste Nordamerikas, südwestlichstes Kanada, europäisch anmutende Kleinstadt am Südzipfel von Vancouver Island, Hauptstadt der Provinz British Columbia. Eine sympathische Stadt, um vieles ruhiger und beschaulicher als das nicht allzuweit entfernte riesige Vancouver.



Schauplatz der Handlung: 769 Pandora Avenue, ein farblich eher auffallendes Gebäude, das International College for T.C.M. - Acupuncture - Herbal ! T.C.M. als Abkürzung for Traditional Chinese Medicine. Diese Art Medizin entstand vor über 2000 Jahren und wurde seither weiterentwickelt und stetig ausgebaut. In China gibt es heute noch viele Spitäler, die T.C.M. praktizieren, andere versuchen es mit einer Mischung aus westlicher und traditioneller chinesischer Medizin. Mittlerweile hat auch die World Health Organization, kurz WHO, diese Art der Behandlung akzeptiert und bestätigt, dass bestimmte Krankheiten so heilbar seien. Dazu gehören u.a. die Grippe, Zahnschmerzen, Bronchitis, Asthma, Gastritis, Magengeschwüre, Migräne, Kopfschmerzen, Bettnässen usw. Die chinesischen TCM-Ärzte behaupten von sich selbst aber auch, dass sie u.a. die Multiple Sklerose oder auch AIDS behandeln können, dies jedoch ohne die Akzeptanz der WHO.



Wie komme ich, Martin, da überhaupt hin ? Nun, die meisten Leute, die mich kennen, wissen, dass ich seit jeher mit meiner Haut zu kämpfen hatte - Psoriasis oder Schuppenflechte genannt. Zwar nicht ansteckend, aber auch nicht gerade hübsch anzusehen, ganz besonders dann, wenn man im Stress ist. Und das war ich doch mehrfach in meinem Leben...



Da mein Bruder Christian in der Agglomeration Vancouver lebt, besuchten wir seine Freundin Patricia und ihn auf der Durchreise. Eines der etwas untypischen Treffen unter Geschwistern, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Es gab vieles zu erzählen, darunter auch die Geschichte eines Hautproblems, das Christian vor Jahren hatte und das er sich auf Anraten von Bekannten von einem gewissen Doktor Mui behandeln liess, nachdem keines der Mittel der westlichen Medizin ihm hatte helfen können. Also versuchte er es mit Akupunktur, jedweden Salben, Tinkturen und mit allen möglichen Tees - abscheulich bitter schmeckend und doch, letztendlich konnte er sich auch an diese Geschmacks-Nuancen gewöhnen. Und: es half ihm so, dass seine Haut so gut abheilte, dass das Problem seither nie wieder aufgetreten ist. Er riet mir, doch auch diesen Behandlungsweg einmal zu probieren und vereinbarte mit Doktor Mui einen Termin (in einer für europäische Verhältnisse ungewöhnlich kurzen Wartezeit von 2 Tagen !).



Ich betrat also zwei Tage später besagtes Haus. Gedämpfte chinesisch-westliche Musik und ein etwas schwierig beschreibbarer Geruch nach orientalischen Duft-Räucherstäbchen gemischt mit allen möglichen Kräuterdüften empfing mich. Nach der Beantwortung eines Fragebogens wurde ich von Doktor Wally Mui, einem sympathischen und sehr agilen Chinesen, in sein Büro geleitet, wo er mir einige spezifische Fragen stellte und sich diese und jene Notiz - in chinesischer Schrift, versteht sich - machte.



Dann musste ich nacheinander erst meine linke, dann meine rechte Hand auf ein Schaumstoffpolster legen, wo er mit seinen Fingern, in Konzentration versunken, anhand meines Pulses feststellte, ob seine Diagnose richtig sei oder ob ich noch andere (unentdeckte) gesundheitliche Probleme haben könnte - vorher habe ich nur immer wieder von dieser Art der Untersuchung gehört, diese jedoch noch nie selbst erlebt.



Er eröffnete mir, dass ich ein Win-Typ sei, dass mein Immunsystem etwas zu stärken sei und dass die Oberflächentemperatur der Haut zu hoch sei, was dazu führen würde, dass sich Hautteile schuppenartig lösen würden. Er schlug vor, durch eine Kombination von Kräutersalben, Akupunktur, Moxibustion (Einwirkung des Rauchs von glimmenden Kräutern) und durch Einnahme von speziellen Kräuterpillen, diese Probleme adäquat zu behandeln. Ich solle ihm zwei bis vier Wochen geben, um Erfolge zu erzielen. Ich meinte nur darauf, dass ich zuerst Julia davon überzeugen müsse, da sie eigentlich schon darauf dränge, Kanada baldmöglichst zu verlassen.



Wir entschliessen uns, zwei Wochen zu bleiben und zu sehen, wie erfolgreich Doktor Mui sei. Die Behandlung wird täglich, jeweils abwechslungsweise an der Körpervorderseite, dann auf der Körperrückseite durchgeführt. Die Akupunktur stellt sich als schmerzhafter heraus, als ich vorher gedacht habe. Einer unserer Freunde meint, als wir ihm dies erzählen, ganz trocken, dass Akupunktur nur dann wehtue, wenn der Akupunkteur genau die richtigen Punkte treffe. Doktor Mui "spickt" mich richtiggehend mit Nadeln, besonders viele auf dem Kopf und an ganz speziellen Stellen am Arm, an den Händen, an den Beinen und in der Ohrmuschel. Jede Nadel ist absolut fabrikneu und wird aus einer Verpackung genommen - was mich schon sehr beruhigt, besonders bei alldem, was man so hört über die Ansteckungsgefahr von gewissen Krankheiten, die man sich nicht unbedingt einhandeln möchte.



Bei der Rückenbehandlung wird das Gewebe entlang der Wirbelsäule eingestochen, damit durch Glas-Saugkugeln (wie im Mittelalter) Blut abgesaugt werden kann - wie Doktor Mui meint: mit dort angesammeltem "Unrat" ! Eine ganz spezielle Überraschung bietet die angenehme "Brenn-Technik", mit der Doktor Mui eines Tages aufwartet. Dabei wird ein spezielles feines Papier auf eine Stelle, wo die Haut dick und verhärtet ist, aufgelegt und dann mit einem Zündholz angezündet. Man kann nicht gerade sagen, dass es sonderlich angenehm ist, bei vollem Bewusstsein wie ein Würstchen gegrillt zu werden. Aber wenn es helfen soll... Und ausserdem erfreut mich Mui's Kommentar jedesmal: "you are a hero !".



Ich erhalte eine Tüte mit 300 Gramm kleinen dunklen Kügelchen, von denen ich zwei- bis dreimal pro Tag einen Kaffeelöffel voll mit einem Schluck heissem Wasser einnehmen soll. Zudem bekomme ich vier verschiedene Salbentypen, die ich auszuprobieren habe plus eine Papiertüte mit trockenen Kräutern, die, in heissem Wasser ausgekocht, einen schwarzen Sud ergeben, mit dem ich meine Kopfhaut alle drei Tage einzureiben habe.



Nicht gerade eitel Freude macht mir Doktor Muis Eröffnung, dass ich meine Ernährungs-Gewohnheiten radikal umzustellen habe. So hätte ich besonders mit all jenen Nahrungs- und Genussmitteln aufzupassen, die mir besonderen Spass machen: Wein, Kaffee, Fleisch, Fisch, besonders Krustentiere, fritierte Nahrungsmittel und ausgesprochen stark gewürzte Speisen. Nach seiner Aufzählung frage ich etwas verstört, was ich denn überhaupt noch essen und trinken dürfe - was ihn denn doch etwas lachen lässt.



Was ich nicht für möglich gehalten habe: mein Zustand bessert sich zusehends. Nach einigen Tagen verschwinden die ersten Flecken und besonders an den "abgebrannten" Hautstellen entwickelt sich jungfräuliche, absolut gesunde Haut. Wenn es so weitergeht, dann werde ich bald völlig beschwerdefrei sein. Glauben wir daran !



August 1998



Julia Etter & Martin Kristen